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Netter Nachbar hat plötzlich eigene Interessen

Deutschland präsentiere sich heute widersprüchlich, mit überfordertem Staat, aber wettbewerbsfähiger Wirtschaft, sagt Thomas Borer. Photopress

Deutschlands Aussenpolitik sei selbstbewusster geworden, sagt der ehemalige Schweizer Botschafter in Berlin, Thomas Borer. Doch die politischen Strukturen in der Schweiz hätten es noch nicht erlaubt, darauf zu reagieren.

Auch als Diplomat hatte Thomas Borer kein Blatt vor den Mund genommen. Heute, als Berater, kennt er nicht nur die Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Deutschlands, sondern vermag sie auch aus einer helvetischen Perspektive zu betrachten, und sie in einen europäischen Rahmen zu stellen.

Deutschland sei gleich wie die Schweiz, aber anders, so Borer. swissinfo.ch hat ihn am Forum der Schweizer Aussenwirtschaft getroffen, das jährlich von der Osec veranstaltet wird und das dieses Jahr der dornenvoll gewordenen Beziehung zwischen der Schweiz und Deutschland gewidmet war.

swissinfo.ch: Spätestens seit Steinbrück ist das deutsch-schweizerische Verhältnis getrübt. Hat dies Auswirkungen auf die Wirtschaftsbeziehungen?

Thomas Borer: Unsere Schweizer Wahrnehmung von Deutschland hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Bei einigen von uns ist sogar aus dem freundschaftlichen Nachbarn eine “böse Kavallerie-Nation” geworden. Neu gilt Deutschland für Schweizer Unternehmer, vor allem Bankier sogar als ein risikoreiches Terrain, wo der Staat die Wirtschaft und den Steuerzahler ausquetschen will.

Nur: Dieses Bild ist zu simpel und hilft nicht als Grundlage für Investitionsentscheide. Die ständig wiederkehrenden Themen, wie der Ansturm gut qualifizierter Deutscher auf den Schweizer Arbeitsmarkt, und der Kauf von gestohlenen Bankkundendaten sind nämlich vor allem Symptome einer innerdeutschen Krise. Das kann für unsere Exportwirtschaft ein Problem werden, aber man muss sich auf die grossen Marktchancen in Deutschland konzentrieren.

swissinfo.ch: Hat sich die deutsche Politik gegenüber der Schweiz grundsätzlich geändert oder spielt sich das nur in unseren Schweizer Köpfen ab?

T.B.: Deutschland ist selbstbewusster geworden. Was die Schweiz lange als freundschaftlichen Nachbar wahrgenommen hatte, entsprang der Maxime des Nachkriegs-Deutschland, in der Aussenpolitik niemandem auf die Füsse zu treten – nach dem aggressiven Verhalten vor und während dem Weltkrieg.

Doch unter Bundeskanzler Schröder hat Deutschland begonnen, mehr und mehr mit kalkulierter Machtpolitik die eigenen Interessen durchzusetzen. Das ist an sich nicht verwerflich. Andere Staaten machen das auch.

Für die Schweiz ist dieser Wandel vor allem deswegen zum Problem geworden, weil wir mit unseren politischen Strukturen nicht darauf zu antworten wissen. Wir haben es konstant unterlassen, uns in Deutschland ein Goodwill-Reservoir aufzubauen. Wir haben unsere Interessen nicht kraftvoll mit den modernen Methoden der Public Relations und des Lobbying vertreten.

Doch Schweizer Unternehmer werden in Deutschland weiterhin mit offenen Armen empfangen, unabhängig von den bilateralen Problemen.

swissinfo.ch: Trifft es zu, dass das Staatsverständnis der Deutschen grundsätzlich anders ist?

T.B.: Vereinfacht gesagt, soll in Deutschland der Staat dafür sorgen, dass es den Menschen gut geht, und die Wirtschaft hat sich dem unterzuordnen. In der Schweiz hingegen wird der Staat als notwendiges Übel erachtet, das begrenzt werden muss. Ausserdem gilt in der Schweiz die Wirtschaft als Ursprung und Garant der Wohlfahrt, nicht der Staat.

Das hat Folgen. Inzwischen beziehen rund 40% der Deutschen staatliche Transferleistungen. Das entspricht einem hohen Wähleranteil – der Staat respektive die Politiker haben somit Angst vor Reformen. So herrscht in Deutschland seit Jahren eine Art informelle “Grosse Koalition des Stillstands”, die die Herausforderungen nicht mehr anpackt.

Die Auswirkungen spüren wir auch in der Schweiz in Form der grossen deutschen Zuwanderung und des Drucks auf das Bankgeheimnis. Aber nicht Deutschland als Land, sondern vor allem der Staat zieht hier die Fäden. Das deutsche Unternehmertum ist dagegen der beste Allierte der Schweizer Wirtschaft.

swissinfo.ch: Wird das nun so bleiben?

T.B.: Das kommt darauf an, wie sich Deutschland entwickelt. Es gibt verschiedene Szenarien. Entweder wird unser nördlicher Nachbar zum greisen Transferstaat. Die Folgen wären hohe Abwanderung und tiefe Kaufkraft. Oder der Staat vermag sich zu entschlacken und zu reformieren.

Gerade im süddeutschen Raum gibt es viele Zentren, die dem heutigen Zürich ähneln: München oder Stuttgart sind grenzübergreifende und global ausgerichtete Zentren mit viel Dienstleistungen, Forschung und Entwicklung – Motoren der wirtschaftlichen Beziehungen.

swissinfo.ch: Gibt es dies nicht auch in der Schweiz?

T.B.: Ja, auch die Schweiz steht vor vielen ähnlichen Herausforderungen wie Deutschland. Denn beide Länder leiden an einer Art mentaler Zweiteilung.

Einerseits hat sich die Wirtschaft die Globalisierung durch technischen Fortschritt und wirtschaftlichen Vorsprung verinnerlicht und ist kompetitiv. Zahlreiche Unternehmen haben sich in der Krise gut geschlagen.

Anderseits besteht das Risiko, dass die Gesellschaft und der Staat die Globalisierung verschlafen.

Folgen hätte das vor allem für die Standorte Deutschland beziehungsweise Schweiz. Denn als Folge der Globalisierung verschärft sich der Standort-Wettbewerb, also die Konkurrenz zwischen den einzelnen Ländern. Und Standorte werden nicht nur in ihrer wirtschaftlichen Dimension wahrgenommen, sondern auch in ihrer politischen und gesellschaftlichen.

swissinfo.ch: Bestehen tatsächlich auch Mentalitätsunterschiede?

T.B.: Diese Unterschiede werden gerne von der Boulevardpresse hervorgehoben und beklagt. Doch zumindest fürs Geschäft sind sie direkt kein Faktor, denn dort überwiegen vielmehr die Gemeinsamkeiten.

Nur schon die ähnliche Sprache erheischt wenig Kommunikationsaufwand.

Immer wieder hört man auch, die Deutschen seien konfliktfreudiger als Schweizer. Aber verglichen mit Briten oder Amerikanern verhalten sich Deutsche eher zahm.

Auch die Behauptung, dass das Bankenwesen so anders sei, trifft nicht zu. De facto gleichen deutsche Banken in ihrem Selbstverständnis als Wirtschaftsfinanzierer eher der UBS oder der Credit Suisse als beispielswiese US-Banken wie Citi oder Goldman Sachs.

Ich komme immer wieder darauf zurück: Schweizer Unternehmer hegen bezüglich Deutschland Befürchtungen, die eher aus Erfahrungen mit dem deutschen Staat rühren. Die Erfahrungen mit deutschen Geschäftskollegen sind dagegen ganz anders. Diese würden ohnehin am liebsten in die Schweiz ziehen, wenn sie nicht eh schon da sind.

Alexander Künzle, swissinfo.ch

Thomas Borer wurde 1957 in Basel geboren. Als Unternehmer/Berater ist er in Deutschland, Schweiz und den USA tätig.

Spezialitäten: Krisenmanagement und -kommunikation, Verhandlungen in schwierigen Situationen, Schaffung von Aufmerksamkeit, Reputation, Analyse, regulatorisches Umfeld.

Der Jurist trat 1987 als Diplomat ins Aussendepartement ein. 1993 wurde er nach Washington versetzt.

1994 wurde er stv. Generalsekretär des EDA, 1996 wurde er vom Bundesrat zum Chef der Task Force “Schweiz – Zweiter Weltkrieg” ernannt.

Diese wurde 1999 aufgelöst, und Borer wurde Botschafter in Berlin. 2002 verliess er den Staatsdienst.

Laut einer Umfrage des World Economic Forum (WEF) ist die Steuerregulierung eines von Deutschlands grössten Problemen – weniger die Steuerlast.

Auch der unflexible Arbeitsmarkt wird als problematisch erachtet, obschon Streiks in Deutschland zur Zeit selten geworden sind.

Durch disziplinierte Lohnverhandlungen seien die Arbeitskosten zumindest unter Kontrolle gebracht – ganz im Gegensatz zu den südeuropäischen EU-Ländern.

Das sei auch ein Grund für die wettbewerbsfähig hohe Produktivität von Arbeit in Deutschland – und für die hohen Exporte (nach Südeuropa).

In Deutschland ist wie in anderen EU-Ländern der öffentliche Haushalt stark belastet – wegen der hohen Sozialleistungen (Staatsschulden, Haushaltsdefizit).

2010 werden rund ein Viertel des deutschen Haushaltes durch Neuaufnahme von Schulden finanziert.

Ähnlich wie in der Schweiz tickt auch in Deutschland in demografische Zeitbombe, kombiniert mit hohen Geburtenraten in Familien mit so genanntem Migrationshintergrund.

Im Gegensatz zur Schweiz gesellt sich dazu eine erhöhte Auswanderung der gut Qualifizierten.

Die deutsche Gesellschaft ist deshalb tief verunsichert. Die Staatsgläubigkeit ist entsprechend gewachsen, auch im Zug der Wirtschaftskrise.

Doch Deutschland, die grösste Volkswirtschaft Europas, bleibt auch der grösste Markt auf dem Kontinent.

Deutschsprachige gibt es insgesamt rund 100 Millionen.

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