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Deutschland lockt trotz Politkrise

Deutschland-Schweiz: Die Beziehung bringt viel Ärger, aber auch Freude. Keystone

Ausgerechnet im schlimmsten Aussenhandelsjahr seit dem 2. Weltkrieg haben sich 2009 weit über tausend Schweizer neu in Deutschland niedergelassen. Auch bei den Direktinvestitionen liessen die Schweizer über 5 Mrd. Franken springen, um sich im 'grossen Kanton' Marktpositionen zu ergattern.

Wer gedacht hätte, dass das in politischer, fiskalischer und aussenhandelsmässiger Hinsicht krisengeschüttelte deutsch-schweizerische Jahr 2009 Folgen auf den Personenverkehr hatte, muss sich eines Besseren belehren lassen:

Nicht nur konnte sich unser nördlicher Nachbar als attraktivstes Reiseland Nr 1. für Schweizer behaupten. Auch die Zunahme der Auswanderung von 1126 Schweizern nach Deutschland hat sich mit 1,5% gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt.

Insgesamt leben nun rund 76’600 (registrierte) Auslandschweizer in Deutschland. Mit dieser Wachstumsrate übertrifft die Zunahme dieser Schweizer-Kolonie jene für Frankreich (0,8%) und Italien (1%). Sie übertrifft sogar den Durchschnitt der Zunahme der Auswanderung insgesamt, der 2009 1,3% betrug.

Dynamische Wirtschaftsbeziehungen

Auch bezüglich der Altersstruktur wirkt die Schweizer Kolonie in Deutschland dynamisch: Ihr Rentner-Anteil ist kleiner als jener in Frankreich oder Italien. Mit anderen Worten: Nach Deutschland wandern vor allem Berufstätige aus.

Dies spreche trotz dem Krisenjahr 2009 für die dynamischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern, sagte Daniel Heuer, Vizedirektor der Handelskammer Deutschland Schweiz, am Donnerstag in Zürich vor den Medien.

Umgekehrt wanderten auch 2009 viele berufstätige Deutsche in die Schweiz ein – aber erheblich weniger als im Vorjahr (plus 17’119). Sie stellten 2009 mit einem Ausländeranteil von knapp 15% respektive einer Viertelmillion die zweitgrösste Volksgruppe nach den Italienern.

Zur Relativierung: 1914, also vor knapp einem Jahrhundert, als die Schweiz noch rund 3 Millionen Einwohner zählte, waren es bereits einmal über 200’000 gewesen.

Diese hohe Attraktivität der Schweiz für berufstätige Ausländer zeigt die vergleichsweise gute Wirtschaftsverfassung, sagte Ralf Bopp, Direktor der Handelskammer Deutschland Schweiz.

327’000 Beschäftigte in Deutschland in Schweizer Firmen

Vor dem Hintergrund des massiv eingebrochenen Aussenhandels der beiden Länder zeige sich die gute Verfassung der Schweiz auch daran, so Bopp, dass 2009 die Schweizer Direktinvestionen in Deutschland um 3,4 Mrd. Euro respektive über 5 Mrd. Franken zugenommen hätten.

Unter Direktinvestitionen versteht man wirtschaftliche Engagements in Unternehmen an Ort und Stelle, wie Aufkäufe, Übernahmen, etc., und nicht solche in indirekter Form über Wertpapiere oder Aktien.

Die Statistik weist in Deutschland 1470 Schweizer Firmen auf, die einen Jahresumsatz von 119 Mrd. Euro (knapp 180 Mrd. Franken) erwirtschaften und 327’000 Beschäftigte ausweisen – gewichtige Zahlen, von denen man im Zusammenhang mit dem politischen Kräftemessen 2009 nur wenig gehört hat.

Deutsche Firmen beschäftigen demgegenüber in der Schweiz ‘nur’ rund 100’000 Mitarbeitende – bei einem Jahresumsatz von etwa 90 Mrd. Franken (Zahlen von 2007).

Die Handelskammer nennt als Motivation für diese Schweizer Direktinvestitionen in erster Linie den Ausbau der Marktpositionen: Die Out- und Globalsourcing-Aktivitäten der Industrie hätten in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Mit der Folge, dass die Unternehmen auch im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr mehr Nähe zu Markt und Kunden anstrebten.

Deutsche Firmen liebten in der Schweiz die Rahmenbedingungen, Schweizer Firmen in Deutschland das enorme Marktpotenzial und die gute Arbeitsproduktivität, so Bopp.

Ein grosser Korb voller ungelöster Probleme

Die Handelskammer Deutschland Schweiz gibt sich üblicherweise sehr neutral. Doch am Donnerstag hat sie angesichts der politischen Belastungen und der getrübten Stimmung zwischen den beiden Ländern ihre Zurückhaltung für einmal zur Seite gelegt.

Als Institution hat sie sich aktiv gegen bestehende und drohende Hemmnisse im Handels- und Dienstleistungsverkehr einzusetzen. Deshalb fordert sie die deutschen Behörden eindeutig auf, auf gestohlene Schweizer Bankkundendaten zu verzichten. Zwar liege ( rein gesetzlich betrachtet) keine Hehlerei vor. Aber auf einen funktionierenden Datenschutz müssten sich alle Unternehmen stützen können.

Ausserdem fordert die Handelskammer einen zügigen Abschluss des neuen Doppelbesteuerungsabkommens Deutschland-Schweiz, damit eine geordnete rechtsstaatliche Amtshilfe wirksam werde. “Die Handelskammer begrüsst auch den Vorschlag der Abgeltungssteuer der Schweizer Bankiers”, so Bopp, und wünsche sich das “Markieren eines endgültigen Wendepunkts in den fiskalischen Auseinandersetzungen”.

Im weiteren fordert sie einen Verzicht auf Polemiken rund um die Integrationsfragen von Deutschen in der Schweiz und um die damit verbundenen Sorgen der Schweizer Bevölkerung. Schliesslich weist die Handelskammer darauf hin, dass der unselige Flughafenstreit inzwischen ein Jahrzehnt alt ist.

Alexander Künzle, swissinfo.ch

Die Schweizer Exporteure mussten 2009 den stärksten Einbruch ihrer Lieferungen nach Deutschland seit dem 2. Weltkrieg (1946) hinnehmen.

Erschwerend kam noch der gegenüber dem Euro erstarkte Frankenkurs hinzu.

Das Handelsvolumen der beiden Länder insgesamt (Exporte und Importe) hatte den grössten Rückgang seit 1975 zu verkraften (Erdölkrise).

Dennoch bleibt Deutschland der wichtigste Handelspartner der Schweiz: Die Schweiz bezieht immer noch die meisten Güter von Deutschland (33,6%), und exportiert am meisten dorthin (19,5%).

Im März 2010 haben die Schweiz und Deutschland ein Änderungsprotokoll zum bestehenden DBA paraphiert.

Die Schweiz will damit ihre Amtshilfe auf Steuer-Hinterziehung ausweiten (nicht nur Betrug) – für künftige Sachverhalte.

Auf vergangene Sachverhalte findet die Neuregelungen keine Anwendung.

Ein automatischer Informationsaustausch ist nicht vorgesehen.

Noch sind weitere Fragen offen: Der erweiterte Marktzugang für Schweizer Banken in Deutschland, der Umgang mit der Kauf gestohlener Bankdaten, die Sicherstellung der Besteuerung ausländischer Vermögen durch eine Abgeltungssteuer, eine mögliche Herbeiführung einer Besteuerung von nicht versteuerten Vermögenswerten von Deutschen in der Schweiz.

Seit 2004 können Unternehmen aus den alten EU-Ländern bis zu 90 Arbeitstage pro Jahr Dienstleistungen in der Schweiz bewilligungsfrei erbringen.

Wegen der Gefahr des Lohn- und Sozial-Dumpings durch diese Firmen drohen deutschen Entsendebetrieben in der Schweiz zum Teil erhebliche finanzielle Belastungen durch das Einführen von Kautionspflichten.

Im Kanton Basel-Landschaft zum Beispiel besteht im Ausbaugewerbe ab April 2009 20’000 Fr. Kautionspflicht ab einer Auftragssumme von 2000 Fr.

Ähnliche Regelungen bestehen gesamtschweizerisch für den Gerüstbau.

Die Handelskammer appelliert, diese Kautionspflichten zu überdenken und von der Einführung weiterer Kautionen abzusehen.

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