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Neue Wege bei Kindesentführungen

Die Kinderperspektive soll bei Entführungsfällen an Gewicht gewinnen. Keystone

Die Schweiz will mehr Rücksicht auf Wünsche von Kindern nehmen, die von zerstrittenen Eltern entführt wurden.

Minderjährige sollen mehr Rechtsschutz und insbesondere einen neutralen Beistand erhalten.

Januar 2005: Das Zürcher Obergericht zwingt zwei Kinder zur Rückkehr nach Australien: Melissa (9) und Jamie Wood (7) waren im Juni 2001 von ihrer Mutter, der mit dem Australier Russell Wood verheirateten und später von ihm geschiedenen Schweizerin Maya Wood, illegal in die Schweiz gebracht worden.

Gestützt auf die Haager Kindesentführungs-Übereinkunft setzte der Vater später gerichtlich die Rückschaffung nach Australien durch, wo die Kinder seither in Pflegefamilien leben müssen.

Eine erste Rückführung hatte Maya Wood verhindert, indem sie mit den Kindern untertauchte. Beim zweiten Versuch holte die Zürcher Justiz die Kinder ab, hielt sie von der Mutter fern und schaffte sie nach Australien aus.

Handlungszwang

Viele Kinderpsychologen und Politiker sprachen sich gegen die Ausschaffung von Melissa und Jamie Wood aus. Zum Wohl der Kinder hätte anders entschieden werden müssen.

Infolge der öffentlichen Entrüstung über den Fall Wood und aufgrund eines Postulats von Nationalrätin Ruth-Gaby Vermot-Mangold setzte Justizminister Christoph Blocher eine Experten-Kommission zum Thema Kindesentführungen ein. Jüngst kam das Thema auch am 3. Schweizer Familienrechtstag in Basel zur Sprache.

Neue Regeln für entführte Kinder

Die Schweizer Regierung hiess vor kurzem den Bericht der Experten-Kommission gut. Diese schlägt eine Reihe von Verbesserungen vor, die in einem Bundesgesetz über internationale Kindesentführungen verankert werden sollen.

Für Kommissionspräsident Andreas Bucher, Professor für internationales Privatrecht an der Universität Genf, stehen drei Vorschläge im Mittelpunkt:

“Dem Kind soll man systematisch einen Beistand gewähren”, sagt Bucher gegenüber swissinfo. Das sei heute nicht der Fall. “Als Hauptbetroffene sollen die Kinder künftig in Verfahren mehr angehört und durch einen von den Elternteilen unabhängigen Anwalt vertreten werden.”

Zudem sollen solche Fälle nicht nur den Juristen überlassen werden. “Es soll ein Netzwerk von Fachleuten – Psychologen, Familientherapeuten – geschaffen werden, die man konsultieren kann. Diese haben ein besseres, objektiveres Auge für die Situation des Kindes.” Damit könnten die behördlichen Bemühungen um eine gütliche Regelung des Konflikts zwischen den Eltern verstärkt unterstützt werden.

Auch internationale Anpassungen

Weiter soll die Haager Kindesentführungs-Übereinkunft mehr im Sinne der Berücksichtigung des Kindeswohls interpretiert werden: “Also eine gewisse Anpassung der Rechtssprechung, die stärker darauf achtet, ob das Interesse des Kindes noch genügend gewahrt ist im Fall einer Rückschaffung nach einer Entführung”, sagt Bucher.

Die Schweiz wird parallel zum Bundesgesetz-Entwurf einen entsprechenden Anpassungs-Vorschlag an das Haager Abkommen richten.

Überlange Verfahren straffen

Für den Psychologen Heinrich Nufer vom Marie-Meierhofer-Institut für das Kind und Mitglied der Expertenkommission sind die oft überlangen Verfahren für die Kinder äusserst problematisch. Diese müssten unbedingt gestrafft werden.

Heute dauern die Verfahren durchschnittlich zehn Monate, mit den Vorschlägen der Experten sollen sie auf sechs Monate verkürzt werden. Gesuche um die Rückgabe entführter Kinder sollen in jedem Kanton nur noch von einer einzigen Instanz beurteilt werden. Der Gerichtsentscheid kann wie bisher beim Bundesgericht angefochten werden.

Traumatisches Erlebnis

“Kinder, die unter Umständen wie im Fall Wood weggebracht werden und sich nicht verabschieden können vom zurückgebliebenen Elternteil, sind ihr ganzes Leben lang psychisch belastet”, sagt Nufer gegenüber swissinfo.

“Solche Kinder haben dramatische Bilder, Erscheinungen. Sie haben ja nicht nur ihre Mutter nicht mehr, sie haben auch ihren Vater nicht, sie leben bei fremden Leuten.” Für Nufer ist bei kleinen Kindern jener Teil der Eltern entscheidend, der sich um das Wohl des Kindes sorgt. “Es kann ein Vater sein, es kann eine Mutter sein, es können sogar Grosseltern sein, die das Kind während Jahren intensiv betreut haben.”

Mütter entführen mehr

Entführender Elternteil ist häufiger die Mutter. Dazu Kommissionspräsident Bucher: “Sie ist meistens jene Person, die sich hauptsächlich um die Kinder kümmert. Wenn diese Mütter Kinder entführen, ist die Rückführung äusserst problematisch.”

Alle neueren kritischen Fälle waren Entführungen durch Mütter, die aus dem Ausland zurück in die Schweiz kamen und die für das Kind hauptsächlich verantwortlich waren. “Oft war es so, dass der Vater die Kinder gar nicht aufnehmen konnte bei der Rückgabe, wie im Fall Wood”, so Bucher.

swissinfo, Jean-Michel Berthoud

Bei der Rückgabe entführter Kinder müssen die Behörden künftig intensiver gütliche Regelungen anstreben, vermehrt die Kinder anhören und die Verfahren beschleunigen.

Die Schweizer Regierung hat den Bericht einer Expertenkommission zum Thema Kindesentführungen gutgeheissen und das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) beauftragt, bis Ende 2006 eine Vernehmlassungs-Vorlage zur Optimierung der Rückgabeverfahren und zur Ratifizierung der Haager Kindesentführungs-Übereinkunft auszuarbeiten.

Die Vorschläge der Expertenkommission sollen in einem Bundesgesetz über internationale Kindesentführungen verankert werden.

2005: Die Zentralbehörde für internationale Kindesentführungen im Bundesamt für Justiz behandelte 83 neue Fälle.

Davon betrafen 53 die Rückführung von Kindern und 28 die Ausübung des Besuchsrechts.

Entführender Elternteil war in 68% der Fälle die Mutter. Bei Verweigerung des Besuchsrechts lag der Anteil der Mütter bei 91%.

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