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“Ich habe nie solchen Hass oder solche Gewalt gesehen”

Christliche Milizionäre, die Anti-Balakas, in der Hauptstrasse von Njoh, 200km nördlich der Hauptstadt Bangui. Michael Zumstein

Der französisch-schweizerische Fotojournalist Michaël Zumstein berichtet seit März 2013 über die Krise in der Zentralafrikanischen Republik. Niemand scheine die Spirale religiös motivierter Racheakte und ethnischer Säuberungen stoppen zu können, warnt er.

Im März letzten Jahres hatten die muslimischen Séléka-Rebellen im mehrheitlich christlichen Land die Macht an sich gerissen. Seither wurden mindestens 2000 Menschen getötet und etwa eine Million vertrieben. Das ist rund ein Viertel der Bevölkerung.

Seit Rebellenführer Michel Djotodia, der sich zum Staatschef ausgerufen hatte, sein Amt im Januar aufgrund der internationalen Kritik abgab, hat sich die Lage etwas stabilisiert. Kritisiert wurde vor allem sein Unvermögen, dem Blutvergiessen ein Ende zu setzen.

Eine Interims-Regierung hat zugesichert, die Gewalt zu stoppen; bis Februar 2015 sollen zudem Wahlen organisiert werden. Doch die religiösen Spannungen bleiben hoch.

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Dokumente des religiösen Tötens

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Ihre zehnmonatige Herrschaft war geprägt von Menschenrechtsverstössen und der Eskalation zwischen der muslimischen Minderheit und der christlichen Mehrheit.Diese reagierte mit öffentlichen Lynchmorden und Hinrichtungen von allen, die mit der Séléka in Zusammenhang gebracht wurden. 2000 Menschen kamen um, rund eine Million, ein Viertel der Bevölkerung, suchten Rettung in der Flucht. Die UNO warnte, dass der…

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swissinfo.ch: Die Vereinten Nationen warnten, das Blutvergiessen könnte zum Genozid werden, wenn die internationale Gemeinschaft nichts unternehme, um das Töten zwischen Christen und Muslimen zu stoppen. Was denken Sie?

Michaël Zumstein: Es ist klar, dass man das Wort ‘Genozid’ sorgfältig verwenden muss, weil es sich grundsätzlich auf eine zentralisierte Aktion bezieht, die zum Ziel hat, eine Bevölkerung auszulöschen. Man ist nicht allzu weit von einem Genozid entfernt, aber bisher geht es um ethnische Säuberungen, die Leute werden mit Terror vertrieben.

Es ist keine zentralisierte Aktion, wie man es in Ruanda gesehen hatte, mit Listen oder Leuten, die mit Absicht am Strassenrand warteten, um zu töten. Hier litt die christliche Bevölkerung massiv, nachdem die Séléka die Macht an sich gerissen hatte. Christen wurden unterdrückt und nun nehmen sie Rache in grossem Massstab an der muslimischen Bevölkerung, die nicht beschützt werden kann.

Die muslimische Minderheit fühlt sich bedroht von den Racheakten der christlichen Bevölkerung und der Anti-Balaka (gesetzlose Banden christlicher Milizionäre). Aus Angst schliessen sich die Muslime in Gruppen zusammen und versuchen, sich selber zu schützen, vor allem mit Waffen.

So dreht sich der schreckliche Kreislauf immer weiter: Die Christen kriegen ihrerseits Angst und sagen ‘wir brauchen Waffen, denn sie könnten uns angreifen’. Jeder beobachtet den anderen, wird misstrauisch und nimmt Rache für frühere Akte.

Als die französischen Truppen ankamen, sahen sie, dass die Muslime oft von Séléka-Rebellen beschützt wurden. Diese wurden entwaffnet, was muslimische Gruppen dann oft schutzlos zurückliess, wo sie christlichen Gruppen und Anti-Balakas ausgesetzt waren. Überall ergriffen Menschen die Flucht.

Es besteht dringender Bedarf für humanitäre Hilfe, doch ausser dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und Médecins Sans Frontières, die einen grossartigen Job machen, fehlen internationale Institutionen und Nicht-Regierungsorganisationen.

michael-zumstein.com

swissinfo.ch: Es gab Berichte über besonders grausame Racheakte, sogar über Kannibalismus in der Hauptstadt Bangui. Wie erklären Sie sich solche extreme Gewalt?

M.Z.: Es handelt sich um unglaubliche Gewalt, die schwierig zu analysieren ist. Man muss den weiteren Kontext sehen: Es handelt sich um einen Staat, der 50 Jahre vor sich hintrieb, mit einer inkompetenten, korrupten und gewalttätigen politischen Elite. Es war der fünfte oder sechste Staatsstreich seit der Unabhängigkeit. 

Das Land hat seine Institutionen verloren: Polizei, Armee und sämtliche Schranken einer normalen, organisierten Gesellschaft. Es gibt niemanden, der den Hass der vergangenen Monate hätte verhindern können. Und dies führt zu den abscheulichen Racheakten, die ausgeführt werden, um andere zu beeindrucken. Frauen und Kinder werden angegriffen, um den Feind zu terrorisieren.

swissinfo.ch: Catherine Samba-Panza wurde letzten Monat als Interimspräsidentin vereidigt. Wie stehen ihre Chancen, die Krise zu beenden?

M.Z.: Ich denke, sie ist eine sehr interessante, willensstarke und kompetente Person an der Staatsspitze. Zudem ist sie eine Frau und gilt als sehr versöhnliche Figur. Ihr Handlungsspielraum ist aber sehr beschränkt. Sie wird zwar eine neue Regierung ernennen können, aber ihre Kapazität, das Land wieder sicher zu machen, hängt klar von ausländischen Truppen ab.

Michaël Zumstein ist ein französisch-schweizerischer Fotojournalist und Filmemache.

Seine Ausbildung absolvierte er an der Schule für Fotografie in Vevey (Schweiz). 

Während 10 Jahren war er Mitglied der Agentur Oeil Public; 2010 stiess er zur Agentur VU’.

Er arbeitet für namhafte französische Medien (Le Monde, Elle Magazine, Télérama) sowie andere internationale Medien wie Newsweek und das Wall Street Journal.

Er ist Autor zahlreicher investigativer Reportagen über Afrika und Frankreich.

swissinfo.ch: Frankreich hat 1600 Mann geschickt, um das Kontingent der 4600 Mann starken afrikanischen Friedenstruppen zu verstärken. Ende Januar genehmigten die Aussenminister der EU-Staaten zudem die Entsendung einer gemeinsamen, 500 Mann zählenden Militärtruppe. Wir wirksam waren diese Truppen bisher und werden es genug sein?

M.Z.: Am Anfang wurden die Franzosen von der christlichen und der muslimischen Seite gut aufgenommen. Doch rasch wurden jene, die Waffen trugen – meistens Séléka-Mitglieder – festgenommen und entwaffnet, oft ziemlich heftig. Und die Franzosen realisierten nicht wirklich, dass sie die muslimische Gemeinschaft mit diesem Vorgehen Repressalien aussetzte, weil diese nicht mehr beschützt werden konnte. Nun sind die Muslime den Franzosen gegenüber vermehrt feindlich eingestellt.

Jüngst haben wir gemerkt, dass auch gewisse Leute aus dem christlichen Lager die Franzosen hinterfragen. Sie fragen, wieso die Gewalt nicht gestoppt worden sei, wieso Muslime bewaffnet würden. Sie werfen den Franzosen vor, untätig zu sein.

Lange Zeit war die Internationale Unterstützungsmission für die Zentralafrikanische Republik (MISCA) nicht sehr sichtbar, weil ihr die nötigen Ressourcen – wie Kommunikation oder Transport – fehlten und sie vom Personal her nicht gross genug war. Heute bezahlen wir den Preis für dieses Manko. Die Mission scheint es nicht zu schaffen, ihre Leute ausserhalb von Bangui einzusetzen, und so bleibt der Rest des Landes in Anarchie und den bewaffneten Gruppen überlassen.

Die Zahl der ausländischen Truppen müsste auf 15’000 bis 20’000 erhöht werden, um der Gewalt und den Racheakten ein Ende zu setzen und die Strassen zu sichern, so dass die Leute entweder das Land verlassen oder sich anderswo niederlassen können.

Man spürt, dass sich Frankreich auf etwas vorbereitet. Paris wird die Afrikanische Union und Zentralafrika zwar versuchen lassen, die Krise selber zu lösen. Doch sollten die ethnischen Säuberungen in den nächsten Wochen auf diesem Niveau weitergehen, wäre ich nicht überrascht, wenn Frankreich schliesslich weitaus stärker intervenieren würde.

swissinfo.ch: Wie war es, als Fotograf unter solch chaotischen Umständen zu arbeiten?

M.Z.: Es ist sehr paradox, aber es ist eines der Länder, in denen es am einfachsten war, zu arbeiten. Es war einfach, sich von einer Gemeinschaft, von einem Lager oder einer Nachbarschaft zur anderen zu bewegen. Die Leute liessen uns arbeiten, weil sie wollten, dass wir Zeuge ihres Leidens wurden.

Aber ich hatte bisher nie solchen Hass oder solche Gewalt gesehen. Es tönt überraschend: Die Arbeit war zwar einfach, aber ein Horror folgte auf den andern, Lynch-Szenen oder Plünderungen.

Jetzt ist es schwieriger geworden. Wir werden von Gemeinschaften, die leiden und keine Verbesserung ihrer Situation sehen, zunehmend heftig bedroht.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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