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2001-2011: Die geopferte Freiheit

Guantanamo, ein Beispiel für eine Ausnahmeregelung, die andauert. Keystone

Seit zehn Jahren lebt die Welt mit den Erinnerungen und Folgen des 11. Septembers 2001. Nach den Anschlägen in den USA wurde nicht nur die Geopolitik umgekrempelt, sondern auch unsere Vision von Demokratie, Freiheit und Sicherheit in Frage gestellt.

Zuallererst folgte der Angriff auf Afghanistan als Antwort der schwer gekränkten Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten.

Dann jener in Irak aus Gründen, die noch immer diskutiert werden: Kampf gegen den Terrorismus und Verteidigung der Demokratie – so lautet die offizielle Version. Inbesitznahme der Ölmärkte oder geostrategische Planung der USA gemäss anderen Standpunkten.

Aus den Angriffen wurden Kriege, die noch immer andauern, einhergehend mit einer allgemeinen Destabilisierung der Region. Auch Al-Kaida existiert noch immer, eine Gruppe, die 1993 von den USA diesen Namen erhielt, und deren “Versachlichung” über einen Namen es zahlreichen Extremisten-Zellen erlaubt, sich als Ganzes zu sehen.

Attentate: In London. In Madrid. In der westlichen Welt also. Aber weit weniger als im Nahen Osten. Ein Krieg ohne Ende.

Um den 11. September 2001 in Erinnerung zu rufen und insbesondere seine Folgen im Verlaufe der letzten Dekade hat swissinfo.ch drei Experten kontaktiert: Den Geheimdienst-Experten Jacques Baud, zur Zeit bei der UNO in New York, den Historiker Daniele Ganser, Professor an der Universität Basel, sowie den Journalisten Xavier Colin vom Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS).

Der Preis, den es zu zahlen gilt

Hat es seit diesem Datum in der Lektüre zu den Folgen dieses Ereignisses eine Wende gegeben?

“Nach dem 11. September hätte man denken können, dass eine Anzahl von Demokratien, darunter die unsere, in Gefahr wären und dieser Art von Attentaten unterliegen könnten. Zehn Jahre später kann man jedoch feststellen, dass dies nicht der Fall ist. Keine Demokratie ist gefallen. Schon das ist eine erste Niederlage für Bin Laden”, sagt Xavier Colin.

“Als Revanche hat Bin Laden in seiner schädlichen Kraft reüssiert. Man hatte Angst vor einem Zusammenprall der Zivilisationen. Der Westen gegen den Rest der Welt, eine Religion gegen eine andere: Nichts davon ist eingetroffen. Das hatte aber seinen Preis. Es ist eine Art Deal: ‘Freiheit gegen Sicherheit’. Die Amerikaner, aber auch die Europäer, haben einen Teil ihrer Bewegungsfreiheit für eine Sicherheit hergegeben, die relativ bleibt.”

Der “Patriot Act”, ein Gesetz, das den Bundesbehörden ausserordentliche Befugnisse erteilte, wurde vom US-Kongress verabschiedet und vom damaligen Präsidenten George W. Bush am 26. Oktober 2001 unterzeichnet. Und von Barak Obama fast vollständig übernommen.

“Die zivilen Freiheiten wurden eingeschränkt. Der krasseste Fall ist Guantanamo, wo Menschen in Lagern endeten, die Historiker mit Konzentrationslagern vergleichen”, erklärt Daniele Ganser.

Einschränkung von Grundrechten

Für gewisse Leute ist die totale Überwachung der Zivilbevölkerung im Gang. Ein Schweizer hat dies klipp und klar gesagt, nämlich Ständerat Dick Marty: “Man benutzt den Terrorismus, um Angst zu machen und die fundamentalen Freiheiten einzuschränken.”

Eine Aussage, die von den drei Experten einhellig geteilt wird. “Dick Marty hat völlig Recht. Das wird in den USA übrigens ein echtes Thema”, sagt Jacques Baud.

“Die Einschränkung der zivilen Rechte im Namen der Sicherheit funktioniert immer sehr gut. Im Prinzip lehnt man sich immer dagegen auf. Aber wenn man vor der Bedrohung einer grossen Gefahr warnt, wie im jetzigen Fall vor dem Terrorismus, sind die Leute bereit, einen Teil ihrer Freiheiten zu opfern”, analysiert Daniele Ganser.

Xavier Colin hat umgehend ein Bespiel bereit: “Sie reisen mit einem Computer und ihrem Mobiltelefon in die USA. Aufgrund des aktuellen Gesetzes haben die amerikanischen Behörden das Recht, diese zu konfiszieren, deren Inhalte zu löschen, auf ihre Geräte zu transferieren und Ihnen die Sachen zurückzugeben oder nicht. Ich frage mich, ob solche Dinge Teil einer echten Terrorismus-Bekämpfung sind.”

Die Mechanismen des Terrorismus

Dennoch sind Terrorakte Realität. Sollte die Antwort auf eine solche Gewalt nicht zwingend strikter überwacht werden?

“Es ist die Gewalt im Allgemeinen, die in unserer Gesellschaft ein Problem ist. Wie jene, die man vor kurzem in Oslo gesehen hat, jene des 11. Septembers, die Kriege in Afghanistan, in Irak, in Libyen”, antwortet Friedensforscher Ganser.

“All diese Formen der Gewalt sind miteinander verbunden, weil all jene, die mit diesen Gewalttaten zu tun haben, überzeugt sind, das die Probleme mit militärischen Mitteln gelöst werden müssten. Jeder rechtfertigt sich mit dem Vorwand des anderen.”

Auch Jacques Baud, Oberst in der Schweizer Armee und früher im Nachrichtendienst tätig, äusserst sich kritisch: “Die Sicherheitsmassnahmen sind angesichts der Probleme in Europa und den USA zweifellos unverhältnismässig. Man merkt, dass die Fokussierung auf Sicherheit in die falsche Richtung führt. Davon zeugt, was in Norwegen passiert ist, und zeigt sich praktisch überall in der Zunahme des Extremismus. Dazu kommt das fehlende Verständnis für die Mechanismen des Terrorismus. Man hat einen Willen zur Zerstörung des Westens beobachtet. Jetzt merkt man, dass das so nicht stimmt.”

Für Jacques Baud liefert der Westen, weil er die Gründe des Terrorismus nicht richtig versteht, diesem regelmässig gute Gründe, weiterzubestehen. Wieso der 11. September? Ganz einfach wegen der amerikanischen Präsenz in Saudi-Arabien nach dem ersten Golfkrieg.

Heute liegt das Problem also noch immer in der mangelhaften Analyse der Gründe und der falschen Reaktion. “Man hat die Terroristen von ihren Vorhaben nicht abgebracht, sondern sie lediglich anderswo konzentriert. Heute findet man in Afghanistan islamistische Kämpfer aus Deutschland, England, dem Sudan, Libyen… Man hat die Willenskraft der Leute, die für den Jihad kämpfen, nicht geschwächt. Man hat Mauern um uns herum errichtet. Es ist einfacher, die Kreuzritter in Afghanistan zu töten, als sie hier umzubringen. Das ist alles”, sagt Jacques Baud.

Arabischer Frühling

Und dann gab es frühlingshafte Nachrichten – aus Nordafrika und dem Nahen Osten: aus Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien, Jemen….

“Betrachtet man heute den arabischen Frühling, sagt man sich, Bin Laden habe totalen Schiffbruch erlitten. Keiner der Jugendlichen, die demonstrieren, trägt ein Porträt von Bin Laden mit sich. Diese Jungen zeigen, dass Diktaturen alleine mit demokratischen Mitteln und nicht mit Terrorismus beseitigt werden können”, betont Xavier Colin.

Die Veränderung der Mentalitäten ist dort im Gang. Hier vielleicht bald auch? “Der arabische Frühling ist sehr wichtig, denn er zeigt uns, dass diese muslimischen Länder keine Synonyme für ‘Al-Kaida’ oder ‘Diktatur’ sind, sondern dass es einen dritten Weg gibt mit einer Bevölkerung, die von mehr Demokratie und wirtschaftlicher Solidität träumt”, erklärt Daniele Ganser.

“Bin Laden wurde bereits von Bouazizi getötet (26-jähriger Student, der sich Ende 2010 in Tunesien selbst verbrannt hatte)”, hiess es am 2. Mai im Internet, als US-Truppen im pakistanischen Abbottabad Osama Bin Laden getötet hatten.

Jacques F. Baud ist gegenwärtig Chef des Dienstes “Politik und Doktrin” im Departement Friedenserhaltende Operationen der Vereinten Nationen (UNO).

Für diese hat er bereits zahlreiche Einsätze in Krisengebieten geleistet.

Im Grad eines Obersten in der Schweizer Armee hat Baud von 1983 bis 1990 für die Schweizer Nachrichtendienste gearbeitet.

Er ist Autor mehrerer Werke über Geheimdienste und Terrorismus.

Der gegenwärtige Produzent der Sendung “Geopolitis” ist seit 1987 beim Westschweizer Fernsehen beschäftigt.

Er arbeitete als Gerichtsreporter, Korrespondent, Reporter, Sendungs-Verantwortlicher und Chef Internationales. Davor war er 13 Jahre für das französische Radio Europe 1 tätig.

Der Doktor der Geschichte ist Spezialist für Friedensforschung und unterrichtet an der Universität Basel.

Sein bekanntestes Werk trägt den Titel “NATO Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung”.

(Übertragen aus dem Französischen: Gabriele Ochsenbein)

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