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Direktdemokratie: “Nicht ohne Verfassungsgericht!”

Zentrum von Ljubljana, der Hauptstadt Sloweniens. Keystone

Mit ihrer direkten Demokratie ist die Schweiz nicht allein. Auch in Slowenien ergreift das Volk Referenden und lanciert Initiativen. Aber Slowenien hat ein Verfassungsgericht – das sei unerlässlich, sagt der slowenische Verfassungsrichter Ciril Ribicic.

Sloweniens Demokratie ist im Gegensatz zur Schweizer Demokratie noch jung, aber die Vor- und Nachteile der Volksrechte sind ähnlich. Diskussionen über die Hürden zum Ergreifen von Volksinitiativen und Referenden werden in beiden Ländern geführt.

Auch die Fragen zum Missbrauch der Volksrechte für populistische Zwecke werden östlich wie westlich des Alpenraums gestellt.

Es gibt aber auch wichtige Unterschiede. Anders als die Schweiz hat Slowenien ein Verfassungsgericht. Das Schweizer Bundesgericht hingegen darf auf Landesebene keine verfassungsbezogenen Urteile sprechen.

Eine weitere wichtige Differenz besteht darin, dass die Slowenen ihre Mitgliedschaft bei der EU und ihre direktdemokratischen Volksrechte unter einen Hut bringen. In der Schweiz hingegen herrscht die Meinung vor, die Souveränität des Volks würde durch einen EU-Beitritt eingeschränkt.

Der slowenische Politiker, Professor und Verfassungsrichter Ciril Ribicic geht im Gespräch mit swissinfo.ch auf diese Unterschiede ein.

swissinfo.ch: In der Schweiz galt bisher die Meinung, es brauche in einer direkten Demokratie keine übergeordnete juristische Instanz, die Volksinitiativen oder Referenden auf ihre Verfassungskonformität hin kontrolliert. Sie sind anderer Meinung?

Ciril Ribicic: Vor 25 Jahren galt für uns in Slowenien die Schweiz als Beispiel, nach dem wir uns ausrichten wollten. Wir kannten damals bereits institutionelle Elemente, die jenen in der Schweiz glichen, zum Beispiel das Regierungssystem, wonach das Parlament als höchstes Organ gilt.

Anderseits bestand in Slowenien bereits seit 1963 ein Verfassungsgericht, das wir nach 1990 beibehielten, als das neue Slowenien entstand. Ich bin auch heute überzeugt, dass es für eine Demokratie so ein Gericht braucht.

swissinfo.ch: In der Schweiz kümmern sich kompetente Parlamentarier um die Verfassungsmässigkeit der Vorschläge. Weshalb soll es denn noch ein Verfassungsgericht brauchen?

C.R.: Ich bin überzeugt, dass jene Leute, die dies abzuschätzen haben, ausserhalb der parlamentarischen Sphäre angesiedelt sein müssen. Es liegt nicht am Parlament, dies zu tun.

Wichtig ist für mich, dass jene, welche die Gesetze oder Gesetzesvorschläge machen, nämlich die Parlamentarier, nicht dieselben sein sollen, wie jene, welche diese nachher auch auf ihre Verfassungsmässigkeit prüfen müssen.

Ob dies nun ein Verfassungsgericht wie in Slowenien macht, oder ob dies ein höchstinstanzliches Bundesgericht wie in den USA oder Norwegen tut, ist eine andere Frage.

swissinfo.ch: In Slowenien war die EU-Kompatibilität der direkten Demokratie nie ein grosses Thema. In der Schweiz ist die Furcht gross, die Volksrechte würden durch Brüssel beschnitten. Weshalb dieser Unterschied in der Einschätzung?

C.R.: Als Slowenien zur EU stiess, war ich Verfassungsrichter. Unsere Furcht war gross, dass das Verfassungsgericht arbeitslos würde, weil es nicht ins Europäische Recht eingreifen dürfte, das ja dem slowenischen Recht übergeordnet wäre.

Diese Ängste haben sich dann als grundlos erwiesen. Es hat sich im Grundsätzlichen nichts geändert. Das slowenische Verfassungsgericht behielt seine Rolle bei, nationale Gesetze zu überprüfen, und zwar auch jene, die EU-Richtlinien übernehmen könnten.

Niemand kann dem Verfassungsgericht diese Rolle abstreiten. Die Slowenen würden es nie zulassen, dass Europäisches Recht der nationalen Verfassung übergeordnet wäre. Europäisches Recht kann slowenischen Gesetzen übergeordnet werden, aber nicht der Verfassung.

swissinfo.ch: Das sind sehr formale und juristische Überlegungen. Aber ganz pragmatisch gesehen, was raten Sie der Schweiz, wie sie sich gegenüber der EU verhalten soll?

C.R.: Besonders heute, wo die Schwierigkeiten innerhalb der EU so gross sind, scheint mir die laufende schweizerische Politik weise und überlegt zu sein. Die Schweiz nimmt sich von der EU, was ihr nützt, ohne sich zu stark zu binden.

Anderseits glaube ich, dass es der Schweiz wenig nützen würde, aus dem Schengenraum auszusteigen. Sicher, der gemeinsame Markt ist auch mit Problemen wie der Migration verbunden, er hat aber grosse Vorteile für die Wirtschaft.

Die Schweiz kann sich gegenwärtig politisch auch aus den Budgetproblemen mit Griechenland und Portugal heraushalten.

Obschon ich aus slowenischer Sicht es begrüssen würde, wenn die Schweiz zur EU stiesse. Ehrlich: Wenn sich Slowenien heute in der Schweizer Situation befände, würden wir uns auch nicht beeilen, zur EU zu stossen.

Ciril Ribicic ist ein slowenischer Jurist, Politiker und Autor. In den 80er-Jahren war Ribicic zusammen mit Milan Kucan, dem späteren Präsidenten Sloweniens, aktiv bei den Reformkommunisten.

1990 führte er die slowenische Delegation in Belgrad aus der legendären letzten Versammlung der Liga der Kommunisten Jugoslawiens hinaus. Dieser Schritt leitete damals den Beginn der Auflösung des Landes ein.

Im gleichen Jahr wurde Ribicic erster Präsident der Partei der demokratischen Erneuerung Sloweniens.

Als einer der beiden Führer der Linken führte er bis 1992 die Opposition und zimmerte die so genannte Grosse Koalition zusammen.

Ab 1993 zog er sich langsam aus der Politik zurück und widmet sich seither seiner akademischen Arbeit. Er lehrt an der Uni Ljubljana unter anderem Verfassungs- und Menschenrechte (Europäischer Menschenrechtsrat, Europarat).

Im Jahr 2000 wurde er zum Mitglied des Verfassungsgerichts berufen.

Rund 15% der seit 1992 in der Schweiz abgehaltenen Abstimmungen könnte man gemäss Professor Thomas Cottier nicht mehr in derselben Weise durchführen, falls die Schweiz der EU beiträte.

Diese Relation ist für den Schweizer Experten Uwe Serdült vom Zentrum für Demokratie Aarau nicht sehr entscheidend, da man über gewisse Themen wie das Budget der Bundes ohnehin nicht abstimmen dürfe.

Andererseits müsse die Direktdemokratie aber konstanter sein als in gewissen EU-Ländern. Würden Referenden nur selten, alle paar Jahre durchgeführt (Schweden, Niederlande), erhielten sie oft den Charakter von Plebisziten.

Viele Stimmbürger seien dann prinzipiell gegen jeden Vorschlag der Regierung, weil sie ihr eins auswischen möchten, unabhängig vom Inhalt des Vorschlags. Gerade mit EU-Referenden wurde diese Erfahrung gemacht. In der Schweiz kenne man dieses Verhalten viel weniger.

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