Ein Moment der Lethargie zwischen Bern und Brüssel
Die Schweiz ist in der EU kein Thema mehr. Zu sehr ist diese mit ihrer Eurokrise beschäftigt. Doch Brüssel versucht immer wieder, die Spielregeln in den Beziehungen mit der Schweiz zu ändern. Häufig geht es um institutionelle Fragen.
Wenn auch die derzeitige Stille zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) nicht ein Desinteresse aufzeigt, so steht sie doch zumindest für eine gewichtige Blockierung der Beziehungen.
Die Gruppe «AELE» des EU-Rats, bei der alle 27 Mitgliedstaaten mit einem Diplomaten vertreten sind und die sich um die schweizerisch-europäischen Beziehungen kümmert, hat sich seit dem 13. April nicht mehr für die Situation interessiert.
Alles weist darauf hin, dass sie sich nicht mehr vor dem 8. Juni trifft, wenn Peter Maurer, der neue Staatssekretär im Departement für auswärtige Angelegenheiten, Brüssel einen Besuch abstatten wird. Zwei Wochen später werden die Mitglieder der Gruppe vom 23. bis 26. Juni die Schweiz besuchen.
Existenzielles Unbehagen
Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind in eine Phase der Lethargie gefallen. Man hört nicht einmal mehr etwas über die Unstimmigkeiten wegen der kantonalen Unternehmensbesteuerung.
Auch die angestossenen Verhandlungen über den Elektrizitätsmarkt, das Inverkehrbringen von Industriechemikalien (Reach), die Bereiche Landwirtschaft oder öffentliche Gesundheit treten auf der Stelle.
Die Euro-Krise, die schwierige Umsetzung des Vertrags von Lissabon und wichtige personelle Wechsel in der Europäischen Kommission nehmen Brüssel derzeit viel von seiner Energie.
Doch die Probleme innerhalb der Union kaschieren ein existenzielles Unbehagen. Hat der «bilaterale Weg» seine Grenzen erreicht? Wie kann er neu belebt werden, um einen Abbau der Beziehungen zu verhindern?
Die Frage nach der Zukunft der Beziehungen zur EU muss der Bundesrat bis Mitte August beantworten, wenn er seine Antwort auf ein Postulat der freisinnigen Nationalrätin Christa Markwalder publiziert, das im Juni 2009 eingereicht worden ist.
Weitergehende Projekte, die die Eidgenossenschaft verfolgen könnte – ein Beitritt zum europäischen Wirtschaftsraum oder gar zur EU – sind illusorisch. Zu stark werden sie von der Schweizer Wirtschaft bekämpft.
Neue Doktrin
Die EU hat eine klare Vorstellung zu diesem Thema, wie die Aussenminister der 27 Staaten bereits im Dezember 2008 dargelegt hatten: «Eine Beteiligung am internen Markt bedingt die konstante Anwendung und Auslegung der Grundsätze (Regeln und Rechtsprechung der EU, AdR.), die sich in ständiger Entwicklung befinden.»
In diesem Zusammenhang haben sich die 27 Staaten klar für den Abschluss eines Rahmenabkommens mit der Schweiz ausgesprochen, das namentlich «den Einbezug der Grundsätze für alle Abkommen und einen regelmässigen Aktualisierungs-Mechanismus für diese vorsieht».
Die Kommission und, seit kurzem, das europäische Parlament teilen diese Vision des neuen Bilateralismus. Die Union will und kann keine massgeschneiderten Abkommen mehr anfertigen; die Schweiz muss akzeptieren, ihre Gesetzgebung auf jene der EU auszurichten (aktuell und zukünftig), die Rechtsprechung des Gerichtshofes in Luxemburg zu respektieren und der Kommission das Recht einzugestehen, die Einhaltung der bilateralen Verträge zu überwachen, die laut der EU manchmal zu wünschen lässt.
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Umstrittener Automatismus
Soll dies automatisch durchgeführt werden? Dies ist die grosse Frage. Zwischen diesen unterschiedlichen Ansätzen muss ein Gleichgewicht gefunden werden: Die EU gibt sich bisher dogmatisch, die Schweiz hat es lieber pragmatisch.
Bern hat sich immer geweigert, seine Souveränität gegenüber Europa aufzugeben. Die Schweiz weigert sich nicht nur, die Rechtsvorschriften ungefragt umzusetzen, sondern auch, sich der Autorität der europäischen Richter zu beugen.
Auch will die Schweiz den Kompromiss im Abkommen über Güterkontrollen und Zollsicherheit (24-Stunden-Regel) institutionalisieren, das im Juni 2009 unterzeichnet wurde.
Es kommt gut – oder nicht
Dieses sieht vor, dass die Schweiz ihre Regeln den Änderungen in Rechtsvorschriften anpassen soll – Bern hat im Gegenzug das Recht erhalten, beim europäischen Gesetzgebungsprozess mitzumachen.
Allerdings bleiben in der Schweiz die Rechte von Parlament und Stimmvolk gewahrt. Sie sollen jederzeit das Referendum gegen eine Gesetzesänderung ergreifen können. In diesem Fall würde das Abkommen von der EU nicht automatisch aufgehoben, sie könnte aber ausgewogene «Kompensations-Massnahmen» ergreifen.
Klar ist, das Abkommen über Güterkontrollen und Zollsicherheit regelt nicht alles: es spricht etwa die Knacknüsse Überwachung und Rechtsprechung nicht an. Ausserdem erachtet die EU das Abkommen als zu entgegenkommend gegenüber Bern und hat angekündigt, dass seine Annahme nie zum Präzedenzfall werden dürfe.
Die Schweiz glaubt trotz allem weiter daran. Die Union habe schliesslich auch ein Interesse an guten Beziehungen mit ihr, wird in Diplomatenkreisen vermutet.
Es kommt gut oder nicht. Doch im zweiten Fall würde es Bern sehr viel mehr kosten als Brüssel.
Tanguy Verhoosel, Brüssel, swissinfo.ch
Die Schweiz unterhält bilaterale Beziehungen mit der EU.
Die Bilateralen Abkommen I (1999) beinhalten besonders die gegenseitige Öffnung der Märkte.
Sie betreffen sieben Sektoren: Freier Personenverkehr, technische Handelshemmnisse, öffentliches Beschaffungswesen, Landwirtschaft, Land- und Luftverkehr, Schweizer Teilnahme an EU-Forschungsprogrammen.
Die Bilateralen Abkommen II (2004) betreffen neue wirtschaftliche Interessen und erweitern die Kooperation auf weitere politische Bereiche wie innere Sicherheit, Asyl, Umwelt oder Kultur.
Folgende Dossiers sind betroffen: Schengen/Dublin, Zinsbesteuerung, Betrugsbekämpfung, Landwirtschaftliche Verarbeitungsprodukte, Umwelt, Statistik, Media, Pensionen und Bildung.
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