«Das Syrien, das vor dem Krieg existierte, ist für immer verloren»
Die Verbindung zwischen einem autoritären Regime und einem laizistischen Staat, der verschiedene Religionsgruppen duldet, wird es sicher nicht mehr geben, sagt Paulo Sérgio Pinheiro, Präsident der UNO-Untersuchungskommission für Syrien. Der Übergang zu einem Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten hat zu einem Bruch zwischen den Religionsgemeinschaften geführt. Trotzdem möchten die meisten Flüchtlinge nach Syrien zurückkehren, sobald der Krieg zu Ende ist.
Die unabhängige internationale Untersuchungskommission für Syrien, die 2011 vom Menschenrechtsrat auf die Beine gestellt wurde, hat den Gerichten bestimmter Länder Informationen geliefert. «Das ist etwas Neues. Wir haben 2015 damit begonnen. Die Informationen sind absolut vertraulich. Wir geben weder an, welche Länder unsere Dienste in Anspruch nehmen, noch um welche Informationen es sich handelt», sagt der Präsident der Kommission, Paulo Sérgio Pinheiro, im Interview im Palais Wilson in Genf, dem Sitz des UNO-Hochkommissariats für MenschenrechteExterner Link.
swissinfo.ch: Die Kommission, die Sie präsidieren, hat in Bezug auf den Syrienkonflikt immer wieder die Trägheit des UNO-Sicherheitsrats – vor allem der ständigen fünf Mitglieder – kritisiert. Heute sind diese, abgesehen von China, alle in den Krieg verwickelt. Hat der Sicherheitsrat die Kritik der Kommission verstanden oder schlecht interpretiert?
Paulo Sérgio Pinheiro: Das ist schwierig einzuschätzen. Seit Dezember 2011, als die Kommission eingesetzt wurde, haben wir auf die Verantwortung des Sicherheitsrats in Bezug auf die Menschenrechte und das internationale humanitäre Recht hingewiesen. Damals waren die terroristischen Gruppen Islamischer Staat und Jabhat al-Nusra in Syrien noch nicht aktiv. Deshalb beharrten wir darauf, dass es – auch für Kriegsverbrechen – keine Straflosigkeit geben dürfe. Aber bis jetzt haben wir kein konkretes Resultat gesehen.
Während es anfänglich 200’000 Flüchtlinge waren, hat es heute mehr als 4 Millionen und mehr als 6 Millionen intern Vertriebene. Mangels einer Lösung – und in diesem Punkt haben die fünf ständigen Mitglieder eine enorme Verantwortung – herrscht Straflosigkeit und – was noch schlimmer ist – es gibt eine Radikalisierung, die das Produkt der Untätigkeit des Sicherheitsrats ist.
In Wien gab es zwei Sitzungen, die zu Vertragsdokumenten mit den wichtigsten Konfliktparteien führten. Das öffnet ein kleines Hoffnungsfenster. Hingegen scheint die militärische Intervention von vier ständigen Mitgliedern an Koordination und klaren Zielen zu mangeln.
Die Mitglieder der Kommission
Paulo Sérgio Pinheiro (Brasilien) – Präsident
Karen Konnig AbuZayd (USA)
Carla Del Ponte (Schweiz)
Vitit Muntarbhorn (Thailand)
swissinfo.ch: Divergenzen gibt es, was das Weiterbestehen des Assad-Regimes betrifft.
P.S.P.: Der UNO-Generalsekretär hatte sich kürzlich verärgert darüber gezeigt, dass das Schicksal des syrischen Präsidenten den «gesamten politischen Verhandlungsprozess in Geiselhaft nimmt». Die Verhandlungen müssen fortgesetzt werden und danach auch dieses Thema behandeln.
Die Genfer Treffen von 2012 ergaben nichts Explizites in Bezug auf das Weiterbestehen des Präsidenten Assad. Aber es ist klar, dass in jedem Übergangsprozess, wo auch immer dieser stattfindet, die amtierende Regierung mitberücksichtigt werden muss. Das ist in Syrien nicht anders. Wenn weiterhin die Frage des Weiterbestehens Präsident Assads im Mittelpunkt steht, wird es sehr schwierig werden, die Verhandlungen fortzusetzen, weil es in diesem Punkt Divergenzen gibt.
swissinfo.ch: Didier Burkhalter, der Aussenminister der Schweiz, hat kürzlich erklärt, dass Präsident Assad ein Teil der Lösung sein könnte.
P.S.P.: Wir beteiligen uns nie an dieser Debatte, um die Mitgliedsstaaten der UNO nicht vor den Kopf zu stossen. Diese Debatte steht vielmehr in Zusammenhang mit der Arbeit meines Kollegen, dem UNO-Sondergesandten für Syrien, Staffan de Mistura.
Die Kommission hat den Mitgliedstaaten deren Verantwortung gegenüber der Zivilbevölkerung in Erinnerung gerufen, nämlich die Achtung der Internationalen Menschenrechts-Konventionen und das internationale humanitäre Recht.
Wir haben alle involvierten Staaten und solche, die Waffen liefern oder spezifische Hilfe zugunsten einer Kriegspartei leisten, darauf hingewiesen, dass sie eine Verantwortung tragen, wenn diese Waffen für gravierende Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen verwendet werden.
Viel weiter gehen wir nicht, weil dies nicht zu unserem Mandat gehört. Unser Mandat betrifft Syrien – das ist auch der Grund dafür, dass wir uns mit den Flüchtlingen auch ausserhalb Syriens beschäftigen – und den Konflikt innerhalb Syriens. Obwohl wir die Verwicklung jedes einzelnen Staats so detailliert wie möglich verfolgen, ist diese nicht Teil unserer Untersuchung.
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2015: Die Flüchtlingswelle erreicht Europa
swissinfo.ch: Die Arbeit der Kommission ist es, zu dokumentieren. Hofft die Kommission, dass die Verbrechen eines Tages durch ein Gericht verurteilt werden?
P.S.P.: Natürlich. Wir haben in einer Datenbank dieses Hauses mehr als 4300 Befragungen gesichert. Selbstverständlich hoffen wir, dass jenen, die Verbrechen begangen haben, eines Tages der Prozess gemacht wird.
Wir haben mehrere Hypothesen aufgestellt. Eine davon ist, dass wir uns auf das internationale Strafgericht beziehen. Aber es gibt keinen Konsens unter den fünf ständigen Mitgliedern in diesem Punkt. Dieser Weg lässt sich deshalb nicht schon morgen einschlagen. Weil Syrien nicht Mitglied des internationalen Strafgerichts ist, kann nur der Sicherheitsrat die Fälle vor Gericht bringen.
Wir schlagen auch die Bildung eines Ad-hoc-Gerichts vor, ein Gericht mit syrischen und ausländischen Richtern. Wir haben darüber debattiert. Aber auch ein solches Gericht kann nur vom Sicherheitsrat etabliert werden. Angesichts dieser Schwierigkeiten haben wir entschieden, bestimmte Informationen auszutauschen über Tatbestände und über jene, welche diese begangen haben, indem wir auf eine formelle Anfrage des Richteramts oder der Staatsanwaltschaft gewisser Länder antworten. Weil die Untersuchungen in diesen Ländern selbstverständlich vertraulich sind, geben wir nicht bekannt, welche Informationen wir liefern und welche Länder darum gebeten haben.
Ich betone, dass es nicht darum geht, in unserer Datenbank fischen zu gehen. Wenn ein Land Informationen über ein Verbrechen oder bestimmte Individuen vervollständigen will, liefern wir diese Informationen. Das ist etwas Neues. Wir haben 2015 damit begonnen.
swissinfo.ch: Kann die Tatsache, dass vier der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats an den Bombardierungen teilnehmen, die Verhandlungen für einen Waffenstillstand begünstigen?
P.S.P.: Die Verhandlungen drehen sich nicht unbedingt um die Beteiligung im Kampf gegen die terroristische Gruppe Islamischer Staat. In Wirklichkeit geht es vielmehr um die Notwendigkeit, dem Krieg ein Ende zu setzen. Ich glaube, ein Element, das dies vielleicht genauso begründet wie der Kampf gegen den Islamischen Staat, ist die Ankunft von rund einer Million Flüchtlingen in Europa. Hinzu kommen mehr als 4 Millionen Flüchtlinge, die in Nachbarstaaten Syriens aufgenommen worden sind.
Der Stacheldrahtverhau in Europa hat die Welt erschüttert. Das hat den Druck auf die ständigen Mitglieder erhöht, dem Krieg ein Ende zu setzen, weil sonst die Flüchtlingswelle anhält. Die neue Flüchtlingswelle ist die Folge der Ausweitung des Konflikts auf Zonen, die vorher nicht betroffen waren.
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Syriens Zukunft in Montreux auf dem Tisch
swissinfo.ch: Ist der Hass nach vier Kriegsjahren und unzähligen Opfern nicht zu gross, als dass Syrer dereinst wieder miteinander leben könnten.
P.S.P.: Ich glaube, dass Syrien, wie es vor dem Krieg existierte, für immer verloren ist. Das Land war eine Verbindung eines autoritären Regimes mit einem laizistischen Staat, der verschiedene religiöse Gruppen – inklusive Christen – duldete, wenn auch mit gewissen Behinderungen. Der Übergang zu einem Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten hat zu einem Bruch zwischen den Religionsgemeinschaften geführt, während früher nicht sichtbar war, ob jemand sunnitischen, schiitischen oder christlichen Glaubens war.
Wir haben nie Meinungsumfragen durchgeführt, um herauszufinden, ob es Hass gibt, aber unsere Befragungen zeigen, dass die Erinnerungen an das Zusammenleben noch existieren, denn es kommt selten vor, dass jemand nicht nach Syrien zurückkehren möchte. Die allermeisten wollen heimkehren und ihre Kinder in die Schule schicken. Sobald sie den Eindruck haben, dass der Konflikt unter Kontrolle ist, kehren die Leute heim. Manchmal aus Gründen dieses Zusammenlebens. Ich glaube, die Nostalgie dieses konfessionsfreien Zusammenlebens existiert noch, was sehr positiv ist.
(Übersetzung: Peter Siegenthaler)
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