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Noch immer viel Nebel in Libyen-Krise

Micheline Calmy-Rey und Hans-Rudolf Merz: Wussten beide gleichviel über die geplante Befreiung? Keystone

Zehn Tage nach der Rückkehr des Schweizer Geschäftsmanns Max Göldi ist unter der Bundeshauskuppel der Knatsch in vollem Gang: Wer in der Schweizer Regierung hat wann was gewusst, lautet eine der zentralen Fragen.

Im Dschungel von Gerüchten, Anschuldigungen und Zurückweisungen gestaltet sich die Suche nach Antworten momentan als schwierig.

Los ging es bereits kurz nach der Rückkehr Göldis in Zürich in Begleitung von Aussenministerin Micheline Calmy-Rey. Ihr war es gelungen, vor allem dank der Mithilfe Spaniens und Deutschlands, den Berner nach knapp zwei Jahren Festsetzung in Libyen frei zu bekommen.

Aus Quellen aus der Bundesverwaltung sickerte durch, dass einzelne Mitglieder des Bundesrats eine militärische Geheimaktion zur Befreiung Göldis sowie Rachid Hamdanis geplant hätten.

Wer gab Einsatzbefehl?

Zu einer solchen Aktion soll es sogar einen Einsatzbefehl gegeben haben, der dann aber zurückgezogen worden sei. Was diese Quellen auch sagten: Nicht alle sieben Regierungsmitglieder seien über diese Pläne informiert worden.

Konkret stehen die Fragen im Vordergrund, wer einen solchen Einsatzbefehl gegeben und später zurückgezogen habe. Und auf welcher Rechtsgrundlage dies geschehen sei.

Fakt ist, dass eine solche Aktion nicht stattgefunden hat. Fakt ist seit letztem Mittwoch auch, dass der Bundesrat eine Klage gegen Unbekannt einreicht, um das Leck in der Verwaltung ausfindig zu machen, durch das die Informationen über die Geheimaktion den Weg an die Öffentlichkeit fand.

Weiter Schweigen

Zur Sache selbst, der Geheimaktion, gibt es aus dem Bundesratszimmer weiter keine Aufklärung, der Regierungssprecher wies die Beantwortung sämtlicher Journalistenfragen mit der Begründung zurück, dass die Informationen vertraulich seien.

Diese Zurückhaltung führte nicht unbedingt dazu, das Karussell von Gerüchten, Dementis, Anschuldigungen und Angriffen auf den Mann resp. die Frau etwas zu bremsen.

Die Aussenpolitischen Kommissionen beider Parlamentskammern luden Bundespräsidentin Doris Leuthard und Aussenministerin Calmy-Rey Anfang Woche zu einem Hearing. Doch die erhofften Antworten gab es auch da nicht.

SVP schlägt UNO-Haken

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) ging zum Frontalangriff auf Sozialdemokratin Calmy-Rey über. Überraschend verlangte die rechtskonservative Partei, dass der Kasus des Unrechtsstaates Libyen vor die Vereinten Nationen gezogen werden sollte. Dabei ist die SVP bisher einen strammen Anti-UNO-Kurs gefahren.

Politiker von Mitte bis Links verlangen ihrerseits, Libyen wegen Verstosses gegen die Menschenrechte einzuklagen. Eine Forderung, die selbst die Wirtschaft unterstützt.

Unter dem Strich lässt sich folgende Zwischenbilanz ziehen: Keine Klarheit in der Sache der Befreiungsszenarien, Klarheit dagegen darüber, dass der Bundesrat offensichtliche Schwierigkeiten hat, mit einer Stimme zu sprechen und dass in der Regierung ein Klima des Misstrauens herrscht.

“Wie kann eine Regierung funktionieren, wenn wichtige Themen gar nicht diskutiert werden?”, fragt Politologe Georg Lutz von der Universität Lausanne.

Die Anschuldigungen gegen einzelne Regierungsmitglieder wertet er als Beweise, dass Vertrauen und geteilte Verantwortung als Grundwerte des Schweizerischen Kollegialsystems ernstlich gefährdet sind.

Gemäss Lutz könnte das Gezänk der Parteien bereits einen Zusammenhang mit dem Kampf um Bundesratssitze haben, die möglicherweise frei werden könnten. “Die parteipolitischen Attacken finde ich ermüdend und trostlos”, sagt Lutz.

Andreas Ladner, auch er Politologe, kommt in seiner Analyse zu ähnlichen Schlüssen. Er sieht das Hickhack als möglichen Auftakt zum Kampf um die nächsten Eidgenössischen Wahlen von Herbst 2011.

“Was aber wichtiger ist: Die Auseinandersetzungen signalisieren mögliche Probleme innerhalb der Regierung sowie Grenzen des Regierungssystems”, so Ladner, Professor am Institut für öffentliche Verwaltung der Universität Lausanne (IDHEAP).

Medien nicht schuld

Er anerkennt zwar, dass die Medien in der Bewältigung der Libyen-Krise eine gewisse Rolle spielten. Der Fokus auf Personen und deren Fehler gäben immer gute Schlagzeilen ab. Er weist aber zurück, dass die Dissonanzen in Bundesrat und Parlament die Schuld von Journalisten seien.

Denn die Regierung habe sich ihre Probleme selbst eingebrockt, indem sie zu viele Fragen unbeantwortet liess, und immer noch lässt. Dies sei eine Einladung an die Medien, tiefer zu graben auf der Suche nach einer guten Geschichte.

Urs Geiser, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Künzi)

Der Bundesrat funktioniert auf dem Kollegialitätsprinzip.

Jedes der sieben Mitglieder, auch der Bundespräsident, hat eine Stimme und trägt die Verantwortung der Regierungsentscheide mit.

Die Bundesräte werden vom Parlament gewählt. Die nächsten Bundesratswahlen sind im Dezember 2011.

Die beiden Schweizer Max Göldi und Rachid Hamdani waren fast zwei Jahren in Libyen festgehalten worden, nachdem in der Schweizer Presse Fotos der Verhaftung des Gaddafi-Sohnes Hannibal in Genf veröffentlicht worden waren.

Der Tunesien-Schweizer Hamdani wurde Ende Februar 2010 freigelassen.

Göldi konnte nach fast 700 Tagen, in denen er in Libyen festsass, das Land Mitte Juni 2010 verlassen.

“Ich habe die vergangenen 23 Monate in grosser Unsicherheit und Angst verbracht. Ich wurde Opfer eines Konflikts, der mit mir nichts zu tun hat”, sagte er nach seiner Ankunft in der Schweiz

Die Verbringung von Landsmann Rachid Hamdani und ihm an einen unbekannten Ort durch libysche Behörden nach einem vorgetäuschten Spitalbesuch bezeichnete Göldi als Entführung.

Er habe 53 Tage in einem verdunkelten Zimmer in vollkommener Isolation verbracht, betonte er. Die Bewacher hätten sich korrekt, aber distanziert verhalten und keinen Kontakt gewünscht.

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