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“Der beste Vorschlag seit langem”

EU-Gerichtshof in Luxemburg: Er soll urteilen, die Schweiz entscheidet. ec.europa.eu

Der Bundesrat sagt Ja zum EU-Gericht, behält sich aber punkto Umsetzung von Urteilen das letzte Wort vor. Der Genfer Europaexperte René Schwok ist optimistisch, was künftige Verhandlungen mit Brüssel betrifft, seine Freiburger Kollegin Astrid Epiney skeptisch.

“Das EU-Gericht urteilt, die Schweiz entscheidet”: Auf diese Formel brachte der Tages-Anzeiger den Vorschlag, den Aussenminister Didier Burkhalter am Mittwoch zur Regelung der institutionellen Fragen mit der Europäischen Union präsentierte.

Demnach soll die Schweiz neues und bisheriges Recht der EU rasch übernehmen und in Streitfällen Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) akzeptieren.

Die Schweizer Regierung sagt also Ja zu den EU-Richtern. Sie lässt dem Ja aber auch ein lautes “aber” folgen: Sind Bundesrat und Parlament mit einem Entscheid aus Luxemburg nicht einverstanden, können sie sich per Gesetz von der Umsetzung entbinden. Dies könnte zur Aufkündigung des Abkommens durch Brüssel führen. Die Verhandlungen mit der EU will Bern noch in diesem Jahr aufnehmen.

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“Souveränität kaum tangiert” 

“Der Vorschlag enthält kaum Spektakuläres und würde im Vergleich zur aktuellen Situation nur minime Änderungen bringen”, sagt René Schwok, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Genf, gegenüber swissinfo.ch zum Vorschlag Burkhalters. Die heutige Souveränität der Schweiz würde “de facto kaum tangiert.”

Gerade deswegen hat die neue Position durchaus das Zeug zum Befreiungsschlag, der die Schweiz aus der Sackgasse führen könnte, in der sie sich im Verhältnis zu Brüssel befindet, glaubt Schwok. “Das Verhandlungsmandat, das es geben wird, wird Bewegung in die Angelegenheit bringen. Ich sehe den Willen, viele Probleme zu lösen.”

Viel werde vom Europäischen Auswärtigen Dienst abhängen. Gerade in diese Behörde setzt Schwok Hoffnung. “Ich schätze, dass die EU mit der Bereitschaft in die Verhandlungen steigt, rund 80% der Schweizer Vorschläge zu akzeptieren”, glaubt er.

In der Tat gilt David O’Sullivan, der Generalsekretär des Auswärtigen Dienstes, der von Brüssel mit dem Mandat zur Verhandlungsführung mit der Schweiz betraut werden würde, der Schweiz gegenüber als wohlgesinnt.

Brüssel habe die Erwägungen des Bundesrates zur Kenntnis genommen, schrieb die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton in einer verhaltenen Reaktion.

Christophe Darbellay, Präsident der Christlichdemokratischen Volkspartei der Schweiz (CVP), sprach von einer Unterwerfung der Schweiz gegenüber dem Europäischen Gerichtshof.

Ins selbe Horn stiess auch die SVP-nahe Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns).

Die SVP bezeichnete den Vorschlag als “Kolonialvertrag”, mit dem die Schweiz das EU-Recht übernehmen und “fremde Richter” akzeptieren solle. Sie wolle dies nötigenfalls mit einem Volksentscheid verhindern.

Für Christian Levrat, Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP), bleiben mehr Fragen offen als Antworten gegeben worden seien.

Die Freisinnigen, die den Aussenminister stellen, begrüssen die harten Leitplanken, die der Bundesrat im Verhandlungsmandat setzen will.

Juristenfutter

Neu würde der EuGH, dessen Entscheide die Schweizer Regierung heute informell zur Kenntnis nehme, formell konsultiert, betont René Schwok. “Dieser Unterschied mag vielleicht für Juristen interessant sein, aber wohl weniger für die Laien.”

Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), die sich als Hüterin der Schweizer Souveränität sieht, dürfte es deshalb laut dem Experten für europäische Integration “schwer haben, aus solch kleinen juristischen Nuancen politischen Profit zu schlagen”, wie sie dies mit ihrem Kampf gegen “fremde Richter” anstrebt (siehe Kasten).

Im Vorschlag sieht der Genfer Professor die “pragmatische Weiterführung jener Position, welche die Schweiz seit Inkraftsetzung der Bilateralen Verträge 2002 einnimmt”. Die Schweiz übernehme EU-Recht nur in jenen Bereichen, die ihr keine Probleme bereiten würden. Die EU-Bürgerschaft etwa habe sie nicht übernommen und den freien Personenverkehr mit flankierenden Massnahmen abgefedert.

Die Absenz spektakulärer Neuerungen, Kontinuität im Kurs mit Brüssel, Wahrung der Schweizer Rechtshoheit: Gerade darin sieht der Genfer Experte das Potenzial von Burkhalters Vorschlag.

“Aus Sicht der Verfechter der Souveränität ist er gar die beste aller Lösungen, die in den letzten Monaten vorgeschlagen wurden”, ist er überzeugt. Schwok ist auch optimistisch, was die Unterstützung in der Schweizer Bevölkerung betrifft, “sofern die Einigung die wesentlichen Punkte der Vorschläge umfasst, die Didier Burkhalter vorgestellt hat”.

“EuGH-Urteile sind verbindlich” 

Skeptischer ist Astrid Epiney. “Ich zweifle, ob dieser Vorschlag in der EU auf Gegenliebe stossen wird”, sagt die Professorin für Europarecht an der Universität Freiburg. Sie weist auf eine Rechtsprechung aus den 1990er-Jahren hin, die im Zusammenhang mit der Schaffung eines EWR-Gerichtes erfolgte. “Demnach müssen die Urteile und Gutachten des Gerichtshofes verbindlich sein. Dieser versteht sich also nicht als Begutachtungsstelle, dessen Gutachten nach Belieben übernommen werden können oder nicht”, sagt Epiney.

Obwohl sie Fragezeichen hinter die politische Umsetzung macht, stellt der Vorschlag für sie aber “inhaltlich nicht die schlechteste Lösung” dar, weil er mehr Rechtssicherheit bringen würde.

Zudem müsse die Schweiz proaktiv tätig werden, denn die EU habe klar kommuniziert, dass es keine Marktzugangs-Abkommen mehr gebe, wenn man in den institutionellen Fragen nicht weiter komme. “Dass der Aussenminister jetzt einen Vorschlag unterbreitet, der versucht, Anliegen der EU unter gleichzeitiger Wahrung von Schweizer Interessen aufzugreifen, halte ich für relativ logisch”, sagt Epiney.

Der Bundesrat will noch in diesem Jahr definitive Verhandlungsmandate verabschieden. Danach könnten die Verhandlungen beginnen.

Noch im ersten Halbjahr 2014 soll ein Gipfeltreffen Schweiz-EU stattfinden, um allfällige letzte Knackpunkte zu lösen.

Ein Grund für die Eile sind die Europawahlen im Frühling 2014. Der heutige Kommissions-Präsident José Manuel Barroso, welcher der Schweiz eher wohlgesinnt ist, tritt wegen Amtszeitbeschränkung nicht mehr an.

Ob Brüssel auf den Schweizer Vorschlag eintritt, ist noch unklar. Ein Optionenpapier wird in den nächsten Tagen erwartet.

Ein Verhandlungsmandant wird nur ausgestellt, falls sich die Mitgliedsstaaten für die gleiche Variante entscheiden wie der Bundesrat.

Bundesrats-Statement vermisst 

Inhaltlich stimmt sie mit Schwok überein, dass sich die Situation nicht gross ändern würde. “Die Schweiz ist schon heute sehr stark in den Acquis communautaire (die automatische Übernahme von EU-Recht) der EU eingebunden, ob die Vorschläge des Bundesrates durchkommen oder nicht.”

Sie hebt aber die Bedeutung jener Bereiche hervor, die nicht in Abkommen geregelt seien, also die Dienstleistungen, den ganzen Steuersektor mit der Frage der Mehrwertsteuer, den Euro, den Aussenhandel mit der Zollunion sowie weite Teile der Landwirtschaftspolitik.

Kämen noch die Abkommen über Strom und Dienstleistungen dazu, müsse man sich in der Tat überlegen, ob die Bilateralen noch ein adäquates Instrument zur Wahrung der Schweizer Interessen seien, sagt Epiney. “Dazu müsste sich der Bundesrat halt mal äussern, aber er tut es ja nicht.”

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