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Schluss mit dem Hirngespinst des Inseldaseins

Bernard Comment, Preisträger des "Goncourt de la Nouvelle" 2011. swissinfo.ch

Der Horizont des jurassischen Schriftstellers Bernard Comment endet nicht in den Literatursalons von Paris. Für ihn muss der Künstler mit der ganzen Welt verbunden sein. So ist es nicht verwunderlich, dass ihn die eidgenössischen Wahlen vom Oktober nicht kalt lassen.

Was bleibt von einem Leben? Was bleibt davon wirklich, wenn das Sowohl-als-auch und die Wenn-und-Aber einmal ausgeräumt sind? Was bleibt vom feinsinnigen Tonfall eines Lebens? Sehr wenig.”

So beginnt “Tout passe”, das neuste Werk von Bernard Comment, für das er diesen Frühling den Preis “Goncourt de la Nouvelle” erhalten hat. In diesem Sammelband stellt er sich eher existenzielle als politische Fragen und bewegt sich in neun kurzen Erzählungen geschickt zwischen dem Gesagten und dem Unausgesprochenen. Er hinterfragt den Begriff der Transmission, der Weitergabe des menschlichen Erbes.

swissinfo.ch: Sie sind 1960 in Pruntrut geboren worden. Welches waren ihre ersten Kontakte mit der Politik? Der Kampf für die jurassische Autonomie?

Bernard Comment: Auf der einen Seite war es sicher der Kampf für die jurassische Autonomie, da jedoch meine Mutter Französin war – sie stammte aus Montbéliard –, gab es auch ein Interesse für das, was in Frankreich passierte.

Ich war 1968 acht Jahre alt und für mich war der Mai 68 Europe 1. Das Radio stand mitten auf dem Tisch, es wurde direkt von den Demonstrationen berichtet. Das hat mich geprägt.
 
Ich glaube, meine erste Erinnerung an die Politik war der Moment, als uns unsere Mutter zu einer Nachbarin mitnahm, um den Fernsehansprachen von General De Gaulle zu lauschen – ich war noch nicht mal fünf Jahre alt.

Ich wunderte mich über diesen grossen Mann mit seinem Militärhut, seiner seltsamen Stimme, seinen Reden… Ich sah, wie er die Erwachsenen faszinierte und mich als Kind langweilte. Das ist das erste Bild von Politik, das ich habe.

swissinfo.ch: Ihr Vater, ein angesehener Maler, war mit der jurassischen Autonomiebewegung verbunden. Hatte dieser Umstand einen Einfluss auf ihre Rolle als politisch engagierter Künstler?

B.C.: Ich habe mich immer für das Leben auf dieser Welt engagiert, vielleicht durch dieses Vorbild. Ich habe daraus eine doppelte Lektion gelernt: Vom Moment an, wo man eine öffentliche Person ist, braucht es den Mut zur eigenen Meinung, zur eigenen Überzeugung.

Die zweite Lektion, die ich gelernt habe, war, dass die Politik die Künstler in solchen Momenten mag, doch sie auch gerne wieder vergisst, wenn die Probleme gelöst sind, in diesem Fall, als der Kanton Jura geschaffen wurde.

swissinfo.ch: Die literarische und politische Welt der Schweiz halten ziemlich Distanz zueinander. Schriftsteller, von einigen seltenen Ausnahmen abgesehen, engagieren sich kaum politisch…

B.C.: Darüber habe ich auch nachgedacht, als ich kürzlich einen Dokumentarfilm über Max Frisch gesehen habe. Er greift gewisse nationale Mythen an und vertritt gegenüber der Armee und der Fichen-Affäre eine klare Position.

In der schweizerischen Kultur wurde eine solche Haltung eher von den Deutschschweizer Schriftstellern – Frisch, Dürrenmatt, Muschg – eingenommen. In der Romandie pflegt man eher das Empfinden als das Engagement. Für die vergeistigte Sicht, die man von der Literatur hat, sind die Dinge dieser Welt eher ein Störfaktor. Ich fühle mich jedoch der Deutschschweizer Tradition näher.

swissinfo.ch: 1998 veröffentlichten Sie “Château d’eau”, eine kurze politische Fabel. Darin beschliesst die Schweizer Regierung, das Wasser aus den Alpen innerhalb der Schweizer Grenzen zurückzuhalten. Europa trocknet aus und die Schweiz wird vom blauen Gold überflutet. Nehmen Sie heute, im Jahr 2011, immer noch diesen Inselgedanken wahr?

B.C.: Ja, natürlich. Er hat sich noch verstärkt, weil das Versagen, das sich heute in verschiedenen Bereichen in Europa abspielt, dazu geführt hat, dass sich die Leute in ihrer Haltung bestätigt fühlen, ausserhalb dieses nicht ganz schlüssigen Abenteuers.

Es ist aber auch praktisch unmöglich, sich das Gegenteil vorzustellen: Die Schweiz muss sich selbst als Besonderheit wahrnehmen, um das Land zusammenzuhalten. Geht die Besonderheit verloren, dann drohen belgische Verhältnisse.

Die Schweizer haben eine Kraft des Zusammenhaltens entwickelt, die von der tiefen Überzeugung herrührt, besser als die andern zu sein, besonders, was das Zusammenleben betrifft.


Dies führt eben auch zu kollektiven, stillen Übereinkommen, die funktionieren. Zu erwähnen wäre die Ökologie: Die Schweiz meiner Jugend war eine Schweiz, in der für die Mächtigen die Ökologie des Teufels war.

Heute kann man beinahe sagen, dass die Ökologie ein Form von Staatsreligion ist, oder zumindest ein aussergewöhnlicher sozialer Kitt. Wenn man sieht, mit welchem Enthusiasmus hierzulande alle ihren Abfall sortieren, dann ist das schon eindrücklich.

swissinfo.ch: Was erwarten Sie von den eidgenössischen Wahlen im Herbst?

B.C.: Ich habe eher Befürchtungen als Erwartungen, denn ich glaube, dass die Schweizerische Volkspartei (SVP) eine gefährliche Partei ist, weil sie äusserst egoistische Auffassungen banalisiert, die keine Zukunftsvision haben. Das ist das Problem der Rechten und der Rechtsextremen, denn die SVP hat eine rechtsextreme Komponente. Sie spielt mit den Ängsten der Leute.

Die heutige Wirklichkeit ist sehr komplex und die SVP ist nicht in der Lage, gangbare, veritable Lösungen für die Gesellschaft in dieser schwierigen Welt zu schaffen. Doch wir wissen auch, dass es schwierig ist, zu kontern: Eine Sache muss nicht wahr sein, um Wirkung zu erzeugen, das ist die Besonderheit der Rhetorik der SVP.

Man kann nur hoffen, dass eines Tages das Mass voll ist und die SVP zurückgebunden wird, will heissen, dass die Menschen ein wenig nachdenken. Dieses Hirngespinst des Inselbewohners ist sehr nützlich, aber es erstickt einen.

Wir können uns nicht verbarrikadieren, und das wissen wir. Das war die Idee des “Château d’eau”, des Wasserschlosses. Wir müssen ein für allemal lernen, dass wir die andern brauchen. Ablehnung und Anprangerung ist nicht förderlich für ein Zusammenleben.

swissinfo.ch: In einem Artikel für swissinfo.ch sprachen Sie diesen Winter von einem Klima der Angst, das sich seit zwei Jahrzehnten hier und anderswo eingenistet hat, verbreitet “von Medien bar jeder weitsichtigen Perspektive”…

B.C.: Es gibt zu viele Medien, die mithelfen, die Angst zu schüren und davon profitieren. Bei den Informationen schwingt ein angsteinflössender Unterton mit. Klar, es gibt beunruhigende Ereignisse in unserer Gesellschaft, doch sie werden aufgebauscht und appellieren beim Publikum an die niedersten Instinkte. Man bewegt sich zu sehr im Negativen, und die öffentliche Politik spielt oft mit.

Irgendwann muss dieser Angstmacherei Einhalt geboten und statt des immergleichen Diskurses müssten neue Möglichkeiten eröffnet werden. Es ist wie im Leben: verliert man etwas, gewinnt man etwas anderes. Ständig der alten Welt nachzutrauern bringt nichts.

Die Globalisierung verursacht reale Kosten, sie kann brutal sein und man muss sich mit gewissen Aspekten herumschlagen. Sie ist da und niemand kann sie aufhalten. Hören wir auf, uns abzuschotten, das ist absurd. In einer multikulturellen, vielsprachigen Welt hat die Schweiz mit ihrer Kultur eigentlich einen wichtigen Trumpf auszuspielen.

Die SVP lancierte im Mai dieses Jahres eine Volksinitiative zur Begrenzung der Zuwanderung.

Kontingente: Die Initiative will eine Begrenzung durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente für alle Bewilligungen des Ausländer- und Asylrechts.

Inländervorrang: Bei der Erteilung von Aufenthalts-, Niederlassungs- und Grenzgänger-Bewilligungen ist auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen und den Bedarf nach Arbeitskräften Rücksicht zu nehmen. Dabei soll ein Inländervorrang gelten.

Freier Personenverkehr im Visier: Die Initiative der SVP würde die Schweiz dazu verpflichten, die Verträge, die mit der neuen Verfassungsbestimmung nicht vereinbar sind, neu zu verhandeln oder zu kündigen. Dabei hat die SVP das Abkommen mit der EU über den freien Personenverkehr im Visier. Internationale Verträge, die der neuen Verfassungsbestimmung widersprechen, könnten nicht mehr unterzeichnet werden.

Wird 1960 in Pruntrut geboren. Er ist Übersetzer, Drehbuchautor und Autor zahlreicher Bücher, Essays und Romane und seit 2004 Leiter des Ressort Fiction & Cie. beim Verlag Editions du Seuil.

Er studierte in Genf bei Jean Starobinski und in Paris bei Roland Barthes, bevor er in die Toskana zog, wo er während vier Jahren an der Universität Pisa lehrte. Danach arbeitete er als Forscher an der “Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales” in Paris und veröffentlichte seinen ersten Roman “Ombre de mémoire” (Schatten der Erinnerung).

Er schreibt Romane und Novellen und wurde mehrfach mit literarischen Preisen ausgezeichnet. 2011 erhielt er den Preis Goncourt de la nouvelle” für Tout passe (Editions Bourgois).

Zusammen mit Alain Tanner schreibt Bernard Comment Drehbücher (für die Filme Fourbi, Requiem, Jonas et Lila, À demain und Paul s’en va ) und übersetzt verschiedene Werke von Antonio Tabucchi aus dem Italienischen (darunter Erklärt Pereira undTristano stirbt).

 

In den 1980er-Jahren war Comment Sekretär des Schweizerischen Fussballverbandes und 1999 wurde er Direktor der Abteilung Unterhaltung von France Culture

.

 

Von 2005 bis 2008 präsidierte er die Commission Roman des Centre national du livre.

L’Ombre de mémoire, Roman, Ed. Christian Bourgois, 1990 & Folio, 1999

Roland Barthes, vers le Neutre, Essay, Ed. Christian Bourgois, 1991

 

Allées et venues, Roman, Ed. Christian Bourgois, 1992

Même les oiseaux, Erzählung, Ed. Christian Bourgois, 1998 & J’ai lu, 2000

Le Colloque des bustes, Roman, Ed. Christian Bourgois, 2000 & Folio, 2002

 

Un Poisson hors de l’eau, Éd. du Seuil, 2004 & Points, 2007

 

Entre deux, une enfance en Ajoie, Biro Editeur, 2007

 

Tout passe, Novellen, Ed. Christian Bourgois, 2011

(Übertragen aus dem Französischen: Christine Fuhrer)

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