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Eine Gesellschaft der Angst

Die Angst hat zu viel Terrain besetzt.... RDB/Hipp-Foto

Viele Ängste bedrängen unsere Welt, angetrieben von einer Politik, die sich gerne als Retterin sieht. Laut dem Autor Bernard Comment können wir diese Ängste nur in Schach halten, wenn wir die Wirklichkeit neu erfinden und nicht bloss erdulden.

Am Vorabend des Weihnachtsfestes fiel in Pruntrut, meiner Heimatstadt im Jura, Schnee. Ein fünf bis sechsjähriges Mädchen kreuzte meinen Weg, das Mädchen löste sich von der Hand der Mutter, seine Finger streichelten zärtlich über eine Mandarine, die ihm soeben ein eiliger Weihnachtsmann zugesteckt hatte. Es setzte sich auf ein Mäuerchen und rief begeistert: “Mir, mir ganz allein hat er sie geschenkt! Und es ist erst noch meine Lieblingsfrucht!” In dieser kleinen Strassenszene ruhte der grosse Zauber der Festtage.

Diese uneingeschränkte Glückseligkeit, die Kinder noch empfinden, ihr unstillbares Sehnen nach Freude und dem kleinen Glück erregt jedoch sogleich Widerspruch: Weihnachten ist bloss noch ein leeres Ritual, zumindest für einen Nicht-Gläubigen. Es ist ein kitschiges Überbleibsel  eines Zusammengehörigkeitsgefühls, das sich überlebt hat. Wir schenken und empfangen, Freude und Überraschung sind blosse Gaukelei. Die Gewohnheiten bleiben, der Sinn hat sich verflüchtigt. Zur Wirtschaftskrise gesellt sich die Sinnkrise.

Angst vor dem Morgen

Die Angst hat sich eingenistet, anders ausgedrückt: In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich Gesellschaften der Angst entwickelt. In erster Linie macht der Fremde Angst, er dient als Schreckgespenst und ist schuld an der Verunsicherung, der Arbeitslosigkeit und dem Verlust an Glaubwürdigkeit. Sparen macht Angst, beträchtliche Summen können sich in ein paar Stunden in Luft auflösen, die Medien haben die Risiken eines möglichen Zusammenbruchs aufgebauscht.

Die Schule, oder weiter gefasst die öffentlichen Dienste, machen Angst. Jeder Bürger, jede Bürgerin gerät in den Verdacht, zu viel zu kosten, Sparen und den Gürtel enger schnallen sind angesagt. Das Gesundheitswesen macht Angst. Ständig wird gewarnt vor Pandemien, Intensivpflege und Notfallstationen kommen an ihre Grenzen. Der Verkehr macht Angst, das Wetter macht Angst. Soziale Veränderungen machen Angst. Das Morgen macht Angst. Schon im Januar sorgt man sich über den steigenden Pegel der Flüsse und die möglichen Überschwemmungen – die Seine setzt ganz Paris unter Wasser.       

Wenn sich in den so genannt entwickelten Ländern diese Angstkultur einnisten konnte, dann hat das mit der Politik zu tun. Diese spielt ein gefährliches Spiel. Sie bauscht die Probleme auf, ruft nach Massnahmen und präsentiert sich selbst als Retterin. Der Angstmacherei folgt die Beschwichtigung auf dem Fuss. Nur hat die Angst mittlerweile zu viel Terrain erobert, die Dämme sind bereits am Überlaufen.

Ein Klima herrscht vor, dessen Entwicklung ebenso wenig absehbar ist wie das Wetter. Die Zauberlehrlinge wappnen sich mit Gewissheiten, sie werfen mit Zahlen, Prognosen und Bilanzen um sich, sie rühmen sich ihrer Verdienste, aber man glaubt ihnen nicht mehr. Sie haben sich zu oft getäuscht. Man hat Angst.

Klima der Angst

Es ist traurig, ja bedrückend zu sehen, wie sich Katastrophen wiederholen. Die Geschichte scheint uns nichts gelehrt zu haben. Klar, Berlusconi ist nicht Mussolini (und Rhizinusöl ist längst kein Allerweltsmittel mehr). Aber ist die Welt heute besser? Oder ist sie bloss nur moderner, technischer und besser vernetzt?

Es fällt auf, dass Verlautbarungen der Regierungen zur Krise im Tonfall an Marschall Pétain erinnern, aber vor allem auch an Sarkozys Äusserungen mit seinen gefährlichen Untertönen.  

“Ihr habt über die Stränge geschlagen und profitiert, den Hunger eurer Egos mit allerlei Vergnügungen gestillt, die Moral ist gesunken, man hat über die Verhältnisse gelebt, nun muss man Opfer bringen, zahlen, büssen.” Heute die Griechen und Iren, morgen die Portugiesen und Spanier.

Es ist immer dasselbe Lied, büssen müssen die Menschen, die nichts damit zu tun haben und kaum verantwortlich sind. So ist es auch den Völkern in den 1930er-Jahren ergangen, ausser, dass sie damals ihre Stimmzettel schlecht genutzt haben, das muss ehrlicherweise erwähnt werden.

Dieses Klima der Angst verbreitet sich, unterstützt von kurzsichtigen Medien, seit zwei Jahrzehnten. Es ist der Nährboden für die Mehrheiten der Rechten, was eigentlich erstaunlich ist, denn der Kapitalismus beruht prinzipiell auf Vertrauen. Seine Wirkungskraft ist abhängig vom Vertrauen des Individuums in die Institutionen, die seine materiellen oder finanziellen Güter verwalten.

Anders gesagt: der Liberalismus (der lehrbuchmässige Ausdruck für Kapitalismus) müsste eigentlich Vertrauen schaffen und nicht Angst, wie er das schon zu lange tut.

Vertrauen – ein kollektiver Wert

Wir sind angewiesen auf den Beitrag der Ausländer und die Wanderbewegungen, mit denen wir uns im Laufe der Jahrhunderte immer arrangieren konnten. Wir sind angewiesen auf Investitionen und effiziente Dienstleistungen, auf Forschung, Bildung Erziehung und den Ideenaustausch. Denn wir sind aufgeklärte oder “fortschrittliche” Gesellschaften, die seit zwei Jahrhunderten von der Entwicklung, der Modernität und dem Vertrauen in ein besseres Morgen getragen werden.

Das möchten wir von nun an hören, um den Teufelskreis der Politik der Angst zu durchbrechen und ein Netz des Vertrauens zu knüpfen. Dem Andern vertrauen, sich selbst vertrauen, der gemeinsamen Kraft vertrauen.

Wir sind übersättigt von Negativem und von Katastrophen. Wir wissen aber auch, zu welchen Desastern und Abscheulichkeiten die gezielte Politik des Glücks für alle geführt hat. Glück ist eine individuelle, private Sache, man soll daraus keine kollektive Angelegenheit machen. Doch Vertrauen ist ein kollektiver Wert.

Ich möchte, dass wir den Mut zum Zusammenleben wieder entdecken und weiter entwickeln, den Ängsten mit einem Lächeln abschwören und die Gegenwart neu gestalten anstatt sie bloss zu erdulden.

Das kleine Mädchen aus Pruntrut wäre also nicht mehr die Ausnahme oder bloss eine nostalgische Erinnerung, sondern ein sympathisches Vorbild.

Die Neugier zieht immer wieder Schweizer Autoren in die weite Welt hinaus.

  

Mit leichter Feder bringen sie uns Fremdes näher. 

swissinfo.ch hat bekannte und weniger bekannte Autorinnen und Autoren eingeladen, über ihre Beobachtungen in der Wahlheimat zu berichten.

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Bernard Comment wurde 1960 in Pruntrut geboren. Er ist Übersetzer, Drehbuchautor und Autor zahlreicher Bücher, Essays und Romane.

Er studiert in Genf bei Jean Starobinski und in Paris bei Roland Barthes, bevor er in die Toskana zieht, wo er während vier Jahren an der Universität Pisa lehrt.  

Danach arbeitet er als Forscher an der “Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales” in Paris und veröffentlicht seinen ersten Roman “Ombre de mémoire” (Schatten der Erinnerung) .  

Er erhält ein Stipendium für einen Aufenthalt in der Villa Médici (Académie de France) in Rom (1993-94). Dieser Aufenthalt inspiriert ihn zu einem Pamphlet über diese Art von staatlicher Rente.

Nebst seinen Romanen und Novellen schreibt der mehrfach mit literarischen Preisen ausgezeichnete Bernard Comment zusammen mit Alain Tanner Drehbücher (für die Filme Fourbi, Requiem, Jonas et Lila, À demain und Paul s’en va ) und übersetzt verschiedene Werke von Antonio Tabucchi aus dem Italienischen (darunter Erklärt Pereira undTristano stirbt).

In den 1980er-Jahren ist Bernard Comment Sekretär des Schweizerischen Fussballverbandes.

(Übertragung aus dem Französischen: Christine Fuhrer)

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