Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Sind kleine Gemeinden demokratischer?

Gemeindeversammlung als Urform der Demokratie. Keystone

Gemeindefusionen werden in der Schweiz gefördert, oft auch verlangt. Dabei stehen ökonomische Überlegungen im Vordergrund. Dass die Demokratie darunter leiden kann, wird kaum berücksichtigt.

Ergebnisse einer Nationalfonds-Studie zeigen nämlich, dass kleine Gemeinden oft als demokratischer wahrgenommen werden als grosse.

Wo liegt die ideale Grösse eines Gemeinwesens, damit die Demokratie ideal funktioniert? Die Frage war schon bei den Griechen aktuell und sie ist bis heute nicht abschliessend beantwortet.

Grund dafür ist die Frage, was denn Demokratie überhaupt sei. Anhänger der direkten Versammlungs-Demokratie sind überzeugt, dass die “wahre Demokratie” nur in kleinen, überschaubaren Gemeinwesen funktioniert.

Die Anhänger der repräsentativen Demokratie sehen dagegen die Vorteile in grösseren Gemeinden, weil dort die Politik auf der Basis von politischen Parteien und nach klar erkennbaren Mustern stattfinde.

Die Politologen Andreas Ladner und Marc Bühlmann wollten es in der Schweiz genau wissen, verliessen die Theorie, griffen zum Telefon und befragten 1500 Personen.

“Wir haben damit eine subjektive Input-Perspektive erhalten. Damit will ich sagen, wir haben nicht nach objektiven Demokratie-Kriterien untersucht, sondern wir haben die Leute gefragt, wie sie die Demokratie in ihrem Wohnort beurteilen”, sagt Marc Bühlmann gegenüber swissinfo.

Basisvertrauen

Da den Autoren der Studie auch klar war, dass es DIE Demokratie nicht gibt, haben Sie für die Befragung Indikatoren ausgearbeitet und die Leute danach gefragt: Soziale Integration in der Gemeinde, politisches Interesse, Kompetenz (Name des Gemeindepräsidenten), Vertrauen und Zufriedenheit mit der lokalen Politik, Bereitschaft, selber ein politisches Amt zu übernehmen.

Die Resultate zeigen, dass – gemäss diesen Indikatoren – kleine Gemeinden oft demokratischer sind, als grosse. Der Anteil der Leute, die nur schon den Namen des Gemeindepräsidenten oder der Gemeindepräsidentin wussten, war in kleineren Gemeinden grösser.

Auch punkto Zufriedenheit und politisches Vertrauen in die Institutionen schnitten die kleineren Gemeinden besser ab. “Dieses Basisvertrauen braucht eine funktionierende Demokratie”, sagt Bühlmann.

Nicht gegen Gemeindefusionen

Die Erkenntnisse von Ladner und Bühlmann sind keine Absage an die von vielen Schweizer Kantonen verlangte Fusion kleiner Gemeinden.

“Die Gemeindefusionen in der Schweiz waren einer der wichtigen Aufhänger für diese Studie. In der Regel werden bei diesen Fusionen oder Fusionsabklärungen lediglich die Effizienzkriterien berücksichtigt”, sagt Bühlmann. Das sei eine relativ ökonomische Sichtweise.

“Wir sagen, Fusionen sind nicht etwas schlechtes, aber wenn man sie durchführen will, sollte auch berücksichtigt werden, welche Auswirkungen diese Fusion auf die Demokratiequalität hat.”

Darum sagen Ladner und Bühlmann: Vorsicht, Gemeindefusionen können zwar effizient und effektiv sein. Aber sie können Auswirkungen haben auf die Bindung der Bevölkerung an die Gemeinde. Das heisst, die Fusion kann sich auf die soziale Integration, das Interesse und die Kompetenz der Einwohner auswirken.

Konformitätsdruck

Fragt sich nur, ob die von der Studie belegte Demokratie auch gewünscht ist. Wer je in einer kleinen Gemeinde gelebt hat, der weiss, wie sogenannt demokratische Entscheide fallen. Oft unter Druck der wenigen Mächtigen, denen in der Gemeindeversammlung niemand zu widersprechen traut.

“Diese Wahrnehmung stimmt dann”, sagt Marc Bühlmann, “wenn wir mit objektiven Kriterien arbeiten würden. Doch genau das taten wir nicht, sondern wir fragten einfach die Leute am Telefon und erhielten somit die subjektive Sicht der Befragten.”

Bühlmann weiss wie in kleinen Gemeinden oft Entscheide fallen. Er ist Leiter eines weiteren Projektes, das die objektiven Kriterien der Demokratie in europäischen Staaten zu bestimmen versucht.

“Hätten wir hier in der Schweiz die selben Kriterien wie bei dieser europäischen Untersuchung angewendet, dann könnten wir vermutlich diesen Druck der wenigen Mächtigen, den so genannten Konformitätsdruck, auf Entscheide in kleinen Gemeinden stützen. Aber in diesem Sinne haben wir die Leute eben nicht befragt.”

Was heisst: Die Befragten empfanden Demokratie halt nicht so, wie die wissenschaftliche Theorie sie definiert.

swissinfo, Urs Maurer

Für eine demokratische Auseinandersetzung sind folgende Voraussetzungen zentral:

Soziale Integration in die Gemeinde

Interesse an politischen Fragen

Grundkenntnisse über Politik und das politische System
Kenntnis der politischen Akteure

Vertrauen in die lokale Demokratie

Zufriedenheit mit den Behörden und Dienstleistungen

Mitsprachemöglichkeiten

Politische Beteiligung

Die ausführlichen Resultate der Studie sind im Buch “Demokratie in den Gemeinden” von Andreas Ladner und Marc Bühlmann zu finden.

Das Buch zeigt den Einfluss der Gemeindegrösse und anderer Faktoren auf die Qualität der direkten Demokratie aus der subjektiven Sicht der Einwohnerinnen und Einwohner .

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft