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Sonnige Lage – düstere Aussichten

Spielen und träumen vom vermeintlich besseren Leben. Urs Maurer

In der Schweiz gibt es pro Jahr über 200 Kinder und Jugendliche, die als alleinreisende, minderjährige Jugendliche (MNA) bezeichnet werden. Solche Asylsuchende ohne Eltern werden auf dem Lilienberg, bei Affoltern am Albis (ZH), betreut. Wie geht es ihnen dort?

Auf den ersten Blick geht es ihnen gut, auch wenn dieser Lilienberg nicht das Ende der Träume, sondern eine Art Zauberberg ist. Das Durchgangsheim an bester Lage ist möglicherweise ein erster Schritt hin zum angestrebten besseren Leben.

“Zur Zeit sind wir eher überbelegt”, sagt Claude Hoch, Leiter Fachbereich MNA (mineurs non accompagnés) auf dem Lilienberg.

Hoch und seine 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben vom Kanton Zürich ein Mandat für 70 minderjährige Asylbewerber. “Jetzt sind es genau 89, die zur Zeit betreut werden. Wir sind für Unterbringung und Unterstützung zuständig. Da es sich um Kinder und Jugendliche handelt, gehen sie bei uns auch zur Schule.” Das wirkt sachlich und nüchtern, und genau so wird es auf dem Lilienberg auch gehandhabt.

Die MNA leben in einem Teil des ehemaligen Kurhauses. In Wohneinheiten mit Küche. Die Schulzimmer, die Aufenthaltsräume sind auch in diesem Teil untergebracht.

In einem benachbarten Gebäudeteil haben die Sozialpädagogen, die Lehrer und der Chef ihre Arbeitsräume. Wer diesen Teil verlässt, schliesst mit dem Schlüssel ab.

“Wir tun hier unseren Job, betreuen unsere Kunden”, sagt Hoch. “Das Schicksal der Betreuten können wir nicht auf unsere Schultern laden.” Warum sagt er das? “Oft werden wir von der Öffentlichkeit mit den Betreuten identifiziert, für sie – und wohl auch für ihr Schicksal – haftbar gemacht.”

Das gute Leben

Die jungen Leute wirken nicht abgelöscht. Das Haus lebt. Eben gerade wird in einer Klasse getanzt. Im andern Schulraum sitzen die Schülerinnen und Schüler an den Pulten. Eine Playstation ist da und auch der obligate Billardtisch.

Einer der Lehrer studiert in Zürich Politologie und hat – wie die meisten Jugendlichen in seiner Klasse – schwarze Hautfarbe. Ein Vorteil also? “Nein” sagt er, “im Gegenteil. Für viele in meiner Klasse bin ich ein Verräter, weil ich bei den Weissen lebe, und vor allem, weil ich wie sie lebe”. Genau das wollten die meisten hier eigentlich nicht.

“Sie wollen ein materiell gutes Leben. Sie wollen ein Handy, ein Auto und die Männer eine blonde Freundin.”

Zukunft nicht garantieren

“Wir können den Jugendlichen keine Zukunft hier in der Schweiz anbieten oder versprechen”, sagt Claude Hoch. Obwohl sie jung sind, befinden sie sich in einem ordentlichen Asylverfahren. Kaum einer der Betreuten werde Asyl erhalten.

“Aber wir können ihnen trotzdem eine Zukunft aufzeigen. Wir geben das Handwerkzeug mit.” So hätten sie wenigstens die Chance, davon zu zehren. Wo immer sie lebten.

Deshalb versucht die Schule auf dem Lilienberg den jungen Asylsuchenden zu zeigen, dass sie die Früchte der Gesellschaft nicht ernten können ohne vorher die Bedingungen für das Gedeihen einer fairen Lebensordnung zu akzeptieren.
“Dazu ist eine funktionierende Gesellschaft notwendig. Eine Demokratie, wie in der Schweiz eben”, präzisiert Hoch.

Und das sei eine Gesellschaft ohne Korruption und ohne Häuptling, der alle und alles bestimme. “So sieht nämlich meistens die Welt aus, aus der sie herkommen. Sie kennen nichts Anderes. Konstruktive Zusammenarbeit ist ihnen meist fremd.”

Mögliche Geschichten

Jeder der Jugendlichen hat eine Geschichte. Vor allem Universitäten interessieren sich laut Hoch für die Geschichten. “Das Thema scheint interessant. Doch was werden Sie für Geschichten hören und was bringen sie? Und vor allem: Würden wir die Wahrheit akzeptieren?”

Er sage bei Anfragen immer, man werde “mögliche Geschichten” hören. Die Migration, das Hoffen auf Asyl, der Traum vom besseren Leben sei ein weites Feld geworden und die Stories würden dem Ziel angepasst. “Dafür sorgen die unterschiedlichsten Akteure. Auch die brutalen, die unmenschlichen.”

Claude Hoch und seine Mitarbeiter kümmern sich nicht um Herkunfts-Geschichten. “Wir wollen den Aufenthalt der jungen Leute hier positiv nutzen, das bringt mehr und wir tun das unvoreingenommen.”

Und wie er das sagt, kommt Leben ins alte, schöne Haus. Die Schule ist aus. Ein Blick ins Klassenzimmer zeigt die Arbeit der zwei vergangenen Stunden. An der Wand hängen die selbst gezeichneten Landkarten mit dem Titel “Seen und Flüsse der Schweiz.”

swissinfo, Urs Maurer

Für 2008 rechnet der Bund mit rund 15’000 Asylbewerbern.

In den vergangenen 8 Jahren gab es im Schnitt 17’500 Gesuche pro Jahr.

Alle Kantone in der Schweiz müssen – aufgeschlüsselt nach Einwohnerzahl– eine Anzahl Asylsuchende betreuen.

Die Zahl der “mineurs non accompagnés” (MNA) ist von Jahr zu Jahr unterschiedlich. 2007 waren es gemäss Bundesamt für Migration 219. Das sind rund 2% aller Asylsuchenden.

Unbegleitete Minderjährige sind gemäss UNHCR Kinder und Jugendliche, die das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben und ohne ihre Eltern ausserhalb des Herkunftslandes leben.

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