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Ukraine: Sozialarbeit gegen das Erbe der Sowjetunion

Obstand auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew. (Erik Albrecht)

Trotz kräftigen Wirtschaftswachstums leidet die Ukraine im Jahr 16 ihrer Unabhängigkeit immer noch unter den sozialen Folgen des Zerfalls des Riesenreichs.

Die Schweiz hilft, Sozialarbeiter für den Kampf gegen Armut, Aids und mangelndes soziales Engagement auszubilden.

Auf dem Primorski Boulevard in Odessa präsentiert sich die Ukraine von ihrer besten Seite. Die Prunkbauten aus dem 19. Jahrhundert sind frisch gestrichen und blicken stolz hinab auf das Schwarze Meer. Doch darunter, direkt neben der berühmten Potemkintreppe, liegt der Pionierpark trostlos und leer. Hier haben Oleg, Igor und Sergej gewohnt – in einem alten Trafohäuschen.

Sie sind drei von etwa 120’000 Kindern, die nach Schätzungen des UNO- Kinderhilfswerks UNICEF in der Ukraine auf der Strasse leben. Viele von ihnen sind Sozialwaisen. Ihre Familien zählen zu den Verlierern des gesellschaftlichen Umbruchs nach dem Ende der Sowjetunion.

“Sehr viele Eltern waren und sind bis heute gezwungen, in anderen Ländern zu arbeiten. Das Kind bleibt im besten Fall noch bei Verwandten, sehr oft auch nur bei Nachbarn”, erklärt Tatjana Bassjuk ein typisches Schicksal der ukrainischen Strassenkinder.

Bassjuk bildet für die Kiewer Stiftung für das Wohlergehen von Kindern (CCF) ukrainische Sozialarbeiter aus. Die Stiftung bietet Fortbildungen an und betreibt sieben Kompetenz- und Beratungszentren im ganzen Land. Unterstützt wird sie dabei von der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA).

Die Stunde Null der Sozialarbeit

Der Bedarf ist gross in der Ukraine, denn Berufe wie Sozialarbeiter oder –pädagogen sind so jung wie das Land selbst. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel nach dem Ende der Sowjetunion 1991 brachte enorme soziale Probleme mit sich, doch es gab kaum jemanden, der sie vor Ort lösen konnte.

CCF lud mit Schweizer Mitteln ausländische Referenten ein, die ihr Wissen an ukrainische Multiplikatoren weitergeben sollten. Zwar richteten zu der Zeit auch Universitäten erste Studiengänge für Sozialarbeit ein. “Doch selbst die Dozenten kannten sich nur unzureichend aus”, erinnert sich Bassjuk.

Über die Anfangsschwierigkeiten ist die Ukraine mittlerweile weit hinaus. Die CCF selbst hat 52 eigene Trainer, die im Land Seminare anbieten. “Jetzt versuchen wir, das neue Wissen zu systematisieren und zugänglich zu machen”, sagt Bassjuk. Konkrete Seminarpläne sollen Sozialarbeitern vor Ort die Arbeit erleichtern.

Die DEZA hat allein für diese abschliessende Phase des Projekts 180’000 Schweizer Franken bereitgestellt. Ueli Müller von der DEZA in Kiew ist zufrieden: “Das Projekt kommt zu einem Ende, bei dem man denkt: Das geht weiter.” Die Stiftung wird in Zukunft auch ohne Schweizer Förderung Sozialarbeiter unterstützen.

Trotz Wirtschaftswachstum bleiben die Probleme

Heute wirkt die Ukraine in Kiew, Lwiw (Lemberg) oder Odessa so europäisch wie Prag oder Budapest. Durch ein kräftiges Wirtschaftswachstum entsteht zunehmend eine Mittelschicht. Doch viele Probleme bleiben.

Allein an Natalja Trozenko wenden sich jeden Monat 400 bis 500 Sozialarbeiter. Sie leitet das CCF-Kompetenzzentrum am Stadtrand von Kiew. In seinen engen Räumen drängen sich über 4000 Bücher zu den grössten sozialen Problemen der Ukraine. Wenn sich irgendwo im Land ein Schlüssel für ihre Lösung finden lässt, dann hier: Selbst die Kiewer Staatsbibliothek verfügt über keine größere Fachbibliothek für Sozialarbeit.

Müssen sich Sozialarbeiter in einen neuen Themenbereich einarbeiten, rufen sie oft im Kompetenzzentrum an. Trozenko stellt ihnen Seminarpläne zur Verfügung und berät sie, wenn sie bei ihrer Arbeit nicht mehr weiter kommen. “Wenn ich nicht auf Anhieb helfen kann, bitte ich den Anrufer, mir einen Tag Zeit zu geben”, erzählt die resolute Frau. “Denn irgendwo zwischen den über 4000 Büchern muss sich doch auch dafür eine Lösung finden.”

Auch für das Hilfsprojekt “Der Weg nach Hause” im Zentrum von Odessa steht Trozenko zur Verfügung. Die Initiative betreut Strassenkinder und bietet ihnen ein neues Zuhause. Oleg, Igor und Sergej kommen tagsüber häufig in die Räume des Projekts. Viele Kinder hängen an der Nadel, spritzen sich Aufputschmittel – einen Wirkstoff, den es frei in Apotheken zu kaufen gibt. Dabei hat sich Oleg auch mit HIV infiziert.

swissinfo, Erik Albrecht, Kiew/Odessa

Die Ukraine leidet immer noch unter dem sozialen Erbe des Zusammenbruchs der Sowjetunion. AIDS, Sozialwaisen und mangelndes soziales Engagement sind zum Teil auch Folgen des gesellschaftlichen Wandels.

Den Beruf des Sozialarbeiters hatte es vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion nie gegeben.

In der Ukraine leben etwa 120’000 Kinder auf der Straße.

Das Land hat eine der höchsten HIV-Neuinfektionsraten in ganz Europa. Nach Schätzungen von UNAIDS sind etwa 410’000 Menschen HIV-positiv.

Von der Schweiz unterstützt bildet die Kiewer Stiftung zum Wohlergehen von Kindern Sozialarbeiter im Land aus.

Mittlerweile organisieren 52 CCF-Trainer Fortbildungen im ganzen Land.

In sieben Kompetenz- und Beratungszentren hilft CCF Sozialarbeitern bei ihrem Einsatz vor Ort. Sie arbeitet Seminare und Trainingsprogramme aus, die soziale Einrichtungen abrufen können.

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