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USA, ein Land der Einwanderer oder der Eroberer?

Barack Obama am 10. Mai in El Paso beim ersten Besuch der texanisch-mexikanischen Grenze. Dort liess er sich von der hispanischen Minderheit feiern, der wichtigsten in den USA. Reuters

Die USA bezeichnen sich als Einwanderungsland. Auch Obamas Immigrations-Reform beruht auf diesem Image. Das sei ein Mythos, sagt der Schweizer Historiker Leo Schelbert aus Chicago. Ein Mythos sei auch, dass nur arme Schweizer ihr Glück in Amerika versuchten.

Leo Schelbert lehrt seit 1969 an der Universität Illinois. Er interessiert sich namentlich für Bevölkerungsbewegungen zwischen der Schweiz und den USA.

Die USA seien in erster Linie das Land von Eroberern, sagt Schelbert, den die Freisinnig-Demokratische Partei (heute FDP.Die Liberalen) 2006 zum Auslandschweizer des Jahres ernannt hatte.

Der aus St. Gallen stammende Historiker relativiert auch die Behauptung, dass die Schweizer, die sich im 19. und 20. Jahrhundert in den USA niederliessen, nur arme Leute waren.

swissinfo.ch: Präsident Obama sagt, dass “die Immigration so alt ist, wie die USA” und sich das Land “immer als Einwanderungsland definiert hat”. Stimmt das oder ist es eine ideologische Konstruktion?

Leo Schelbert: Das wird den amerikanischen Kindern so gelehrt, aber es ist eine nationalistische Konstruktion. Die USA sind das einzige Land, das die Immigration in sein nationales Selbstverständnis integriert hat. Es waren vor allem amerikanische Historiker, welche diese Vorstellung priesen und für die meine Meinung ketzerisch ist.

Die USA sind weniger ein Einwanderungsland als ein Land der Eroberungen und Umsiedlungen. Die Gründungsväter der Nation sahen keine Möglichkeit des Zusammenlebens für die Indianer und Europäer. All jene, die nach Amerika kamen, waren Teil eines Rassenkrieges, was auch immer die persönlichen Gründe waren. Sie waren viel eher Kolonisten als Immigranten.

Die Schweiz ihrerseits ist sowohl ein Einwanderungs- wie Auswanderungsland. Das Verhältnis zwischen der einheimischen und der im Ausland geborenen Bevölkerung zeigt, dass die Immigration in der Schweiz viel stärker war als in den USA. Zwischen 1870 und 1914 wanderten 410’000 Schweizer aus und 409’000 Ausländer liessen sich in der Schweiz nieder.

swissinfo.ch: Wann wurden die USA ein eigentliches Immigrationsland?

L S.: Die Einführung des Quotensystems in den 1920er-Jahren widerspiegelt das Ende der Eroberungen. Seither sind die USA mit andern Ländern vergleichbar, deren Immigration auf sozioökonomischen Bedürfnissen basiert.

swissinfo.ch: Die Vorstellung, dass die Leute nach Amerika auswanderten, um der Armut zu entfliehen, ist verbreitet, sogar unter den Nachkommen der Schweizer Auswanderer. Ist sie falsch?

L S.: Dass die Armut der Grund für die Emigration in die USA war, ist auch ein Mythos. Die Schweizer Auswanderungsbewegung war im Grunde genommen ein sozio-ökonomisches Phänomen, und sie ist es heute noch. Die Schweizer emigrierten aus Arbeitsplatz-Gründen.

In den 1840er- und 1850er-Jahren wurde die Heimarbeit in der Schweiz durch die Textilfabriken zerstört. In einigen Regionen zahlten die Behörden den Leuten sogar Geld, wenn sie emigrierten – nicht wegen der Armut, aber weil viele ihre Arbeit verloren hatten und sich nicht in den Fabriken anstellen lassen wollten, wo schreckliche Arbeitsbedingungen herrschten.

Die USA ihrerseits, Staaten wie Michigan oder Indiana, machten Werbung in der Schweiz und stellten den Einwanderungswilligen den Erwerb günstigen Bodens in Aussicht.

Die Liste der Personen, die zwischen 1860 und 1880 in die USA kamen, zeigt tatsächlich, dass die Armen nur rund 10 Prozent ausmachten. 30 Prozent waren Leute mit geringem Einkommen. Die meisten Ankömmlinge gehörten der Mittelklasse an, 3 Prozent waren reich. Dieses Verhältnis hat sich auch im 20. Jahrhundert wenig verändert.

Das Immigrationssystem basierte auf dem Einkommen. Die Ärmsten konnten nicht in die USA einreisen, weil es zu teuer war. Umgekehrt mussten die Reichen nicht über Ellis Island immigrieren. Das Einwanderungs-Kontrollzentrum war den Ärmsten vorenthalten.

swissinfo.ch: Vor allem seit der Abstimmung über das Minarett-Verbot kritisieren die Amerikaner und ihre Medien den Rassismus, der sich – gemäss ihren Darstellungen – gegen die Immigranten in der Schweiz richte. Zeigt die Geschichte der USA tatsächlich, dass die Amerikaner ein Volk sind, das Immigranten mit offenen Armen empfängt?

L S.: Die Feindseligkeit gegenüber Fremden ist in der Schweiz offensichtlich, aber die Emotionen, welche die Tea Party wachruft, sind auch nichts Neues in der amerikanischen Gesellschaft.

Die Einwanderer wurden sehr oft verteufelt, einige, weil sie katholisch waren wie die Irländer. Nicht selten waren es Kriege oder der Militärdienst, die es Immigranten erst erlaubten, sich zu integrieren. Der Sezessionskrieg legitimierte die Irländer, der Erste Weltkrieg die Osteuropäer.

Aber die USA verstehen sich heute noch als Land von Protestanten und Weissen. Abgesehen von den Sklaven, die aus Afrika hergebracht wurden, war es allen anderen farbigen Menschen, ob aus Afrika, Asien oder anderswo, bis 1965 verboten, nach Amerika einzureisen.

Deshalb war die Wahl von Barak Obama zum Präsidenten ein so wichtiger Durchbruch. Ich war sehr erfreut, obwohl ich es fast nicht glauben konnte. Sein Sieg ist Zeichen einer grossartigen Öffnung in der Geschichte Amerikas.

Heute konzentriert sich die Feindseligkeit vieler Amerikaner auf die spanischstämmige Bevölkerung, die 51 Prozent der Einwanderer ausmachen, katholisch und braunhäutig sind.

Wie in der Schweiz wollen die Rechtskonservativen auch in den USA die Türen zumachen, während die Mitte und die Linken, allen voran der Präsident, sagen: “Die USA sind ein pluralistisches Land und gastfreundlich für alle, welche die Spielregeln respektieren und Englisch lernen.”

Leo Schelbert ist 1929 in Kaltbrunn im Kanton St. Gallen geboren worden. 1959 ging er in die USA, um sein Doktorat an der Universität von Columbia zu machen. Später unterrichtete er an der Universität Rutgers, dann an der Universität lllinois in Chicago, wo er als emeritierter Professor heute Doktoranden betreut.

Als Experte für amerikanische Geschichte und besonders der Einwanderung in dieses Land hat Schelbert mehrere Sachbücher publiziert, darunter “New Glarus. The making of a Swiss american Town” sowie “Introductions à l’histoire de l’émigration suisse des temps modernes”, sowie rund 60 wissenschaftliche Artikel.

Er ist Schweizer Bürger. Die US-Staatsbürgerschaft hat er nie beantragt. Schelbert ist mit einer Amerikanerin mit Schweizer Wurzeln verheiratet, mit der er vier Kinder hat.

2006 hat er den Preis als “Auslandschweizer des Jahres” erhalten, den die internationale Sektion der Freisinnig-Demokratischen Partei (heute FDP.Die Liberalen) verleiht.

Obamas Reformen sind ein Kompromiss zwischen den Bestrebungen von rund 12 Millionen illegalen Einwanderern, die in den USA leben, und den Ängsten vieler Amerikaner.

Die Immigrationsreform hat in den letzten Jahren in den USA eine lebhafte Debatte ausgelöst: Linke wie Rechte versuchen, das Problem für die Wahlen 2012 zu ihren Gunsten zu nutzen.

Obama schlägt vor:

– Papierlose und ihre Kinder zu legalisieren

– Familien zusammenzuführen

– Sans-Papiers sollen für die Zeit ihres illegalen Aufenthalts Steuern nachzahlen und eine Busse entrichten sowie Englisch lernen

– Bestrafung der Arbeitgeber, die Papierlose anstellen

– Verstärkte Grenzsicherung

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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