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Von den Barrikaden zum Hühnerhandel – Pariser Kommunarden in der Schweiz

Une barricade de la Commune de Paris, le 18 mars 1871
Barrikade der Pariser Kommune. Aufnahme vom 18. März 1871. Vikidia

Vor 150 Jahren, nach der kurzen Zeit der Pariser Kommune, fanden rund 800 französische Revolutionäre Zuflucht in der Schweiz. Ein Blick auf einige dieser Schicksale in einem Land, das damals mitten in der industriellen Expansion steckte.

Am 18. März 1871 begann das revolutionäre Abenteuer der Pariser Kommune. Innert weniger Wochen wurden die direkte Demokratie, ein laizistisches Schulwesen und eine Bürgerarmee etabliert. Auch wurden soziale Massnahmen durchgesetzt, die im Gegensatz zum sehr konservativen Zweiten Kaiserreich (1851-70) standen. Unter anderem in Lyon, Marseille, Saint-Etienne und Narbonne wurden weitere Kommunen gegründet.

Doch die revolutionäre Zeit sollte nur kurz dauern: Bereits Ende Mai setzte die in Versailles installierte französische Regierung ihre Truppen zum Marsch auf Paris in Bewegung. Die Herrschaft der Pariser Kommune endete in einem Blutbad: Je nach Schätzungen gab es zwischen 10’000 und 20’000 Tote.

Von den Kommunarden, die den Massakern, der Deportation in die Kolonien oder dem Gefängnis entkamen, flüchteten viele ins Exil. Sie gingen nach Belgien, nach London, aber auch in die Schweiz. Wie viele fanden Zuflucht in der Eidgenossenschaft? “Höchstens 800, davon 400 bis 500 allein in Genf”, schrieb der Westschweizer Historiker Marc Vuilleumier, Experte für die Geschichte der Arbeiterbewegung der Schweiz und Europas.

Die Exil-Kommunarden entsprachen nicht dem typischen Profil der Flüchtlinge in der damaligen Schweiz. Sie waren weder politische Profis noch verfemte Schriftsteller und schon gar keine verfolgten Hugenotten.

Die Arbeit ruft sofort

Der französische Historiker Jacques Rougerie, der sich vertieft mit der Pariser Kommune befasst und mehrere Werke zum Thema veröffentlicht hat, bezeichnet die Kommunarden als “Arbeiter-Bürger” (citoyen travailleur).

In dem im März 1871 in Paris gewählten Gemeinderat (Kommune) sassen vor allem Arbeiter (40%), Handwerker, Angestellte und Literaten. Dies entsprach in etwa auch der Zusammensetzung jener Kommunarden, die ins Schweizer Exil geflüchtet waren.

Sie waren Graveure, Uhrmacher, Guillocheure, Färber, Schreiner, Kupferschmiede. Und sie hatten in der Schweiz weder eine Rente noch ein Konto. Mit anderen Worten: Sie mussten hier so schnell wie möglich eine Arbeit finden.

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Ein Blick in die Schweizer Geschichte zeigt, dass politisch motivierte Gewalttaten hierzulande weitaus häufiger waren als uns dies heute bewusst ist.

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Kurz nachdem er nach Genf gekommen war, stiess der Journalist Maxime Vuillaume in der Rue du Cendrier auf einen seiner ehemaligen Revolutions-Kollegen: “Wir hielten vor einer Kupferschmiede an. Hinter den Fenstern standen fünf oder sechs Männer an den Werkbänken. Einer mit dem Rücken zur Strasse, in blauer Jacke und Hose (…) Chardon. Das ist er. Das vom 13. Arrondissement gewählte Mitglied der Kommune, der Oberst in Stiefeln und Sporen. Der jetzt hier wieder zu seinen Messingwaren, seinen Wasserhähnen und Töpfen zurückgekehrt ist.”

Solche harschen Veränderungen waren nicht leicht zu verkraften für die Männer und Frauen, die von der “grossen Nacht” geträumt und die französische Regierung in Versailles zum Zittern gebracht hatten. Aber viele betrachteten ihr Exil schlicht als eine Zwischenstation – vor der Rückkehr nach Frankreich und dem Sieg der Revolution.

Also wurde gearbeitet, wo man eben konnte. Die Umstellung der “Roten” auf ihre neue Situation erfolgte erstaunlich schnell. Auf eine Frage des Schriftstellers Jules Vallès, was er nun in Genf tue, antwortete der Autor und Journalist Arthur Arnould: “Ich handle mit Hühnern! Ja, mein Freund! Mach Dich nur lustig über mich, aber schliesslich muss man irgendwie leben. Und dies ist ein Geschäft, bei dem man seine Fonds buchstäblich essen kann, wenn das Geschäft nicht gut läuft.”

Warnung vor Spitzeln

In Paris machte die Regierung von Adolphe Thiers, dem “Henker” der Kommune, Druck auf die Schweiz, die Kommunarden auszuliefern. Aber Bern blieb standhaft: Eine Übergabe der politischen Flüchtlinge an das diplomatisch isolierte Frankreich kam nicht in Frage.

Café du Levant Genève
Das Café du Levant in Genf wurde von ehemaligen Kommunarden, aber auch von Journalisten, Polizisten und Spionen frequentiert. Le Monde Illustré

“Obwohl zu Beginn eindringlich vor den Verbannten gewarnt wurde, lehnte die eidgenössische Regierung generelle Massnahmen ab, die den Schweizer Traditionen und dem Volksempfinden zuwiderliefen”, hielt der Historiker Marc Vuilleumier fest.

Enttäuscht versuchte Paris deshalb, die Netzwerke der Exil-Kommunarden zu infiltrieren. Im Café du Nord in Genf konnte man damals auf viele französische Exilanten stossen, aber auch auf einige Spione.

Der Pariser Journalist Aristide Claris erstellte eine Skizze eines dieser Spione: “Signalement: Überdurchschnittlich gross (1,68m). Ovales Gesicht, glattrasiert. Roter Teint. Braune Haare. Roter Schnurrbart. (…) Dieser Mann versucht, sich unter die Verbannten zu schleichen und sich mit ihnen anzufreunden, um den Job des Spitzels zu erfüllen. Seine Mission (…) ist es, die Schweizer Bevölkerung gegen sie aufzuhetzen.”

Offenbar ohne grossen Erfolg. Auch wenn die Schweizer diesen meist bärtigen Männern, die in Frankreich eine Revolution angezettelt hatten, eher misstrauisch gegenüberstanden. Die Flüchtlinge “hatten gedacht, sie würden Sympathie und Herzlichkeit finden, doch sie stiessen nur auf Kälte und Verachtung”, wie Aristide Claris bitter festhielt.

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Bakunin und die Uhrmacher

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht 1872 rief die Juraföderation, eine Arbeiterorganisation, in St-Imier (Berner Jura) die Delegierten der antiautoritären Gruppierungen zusammen, die sich dem Zentralismus der Ersten Internationale widersetzten. Die ‘Antiautoritäre Internationale’ wurde gegründet. Vorher war es Karl Marx gelungen, Michail Bakunin und andere Anarchisten aus der Ersten Internationalen auszuschliessen. swissinfo.ch: Wie wichtig war der Kongress von Saint-Imier für die…

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Oder: “Wenn Genf die Kommunarden nicht liebte, so hatte Lausanne eine Abneigung gegen sie”, wie der Autor Lucien Descaves seine Hauptfigur im Buch Philémon sagen liess. In dem sehr schönen, perfekt dokumentierten Roman, der 1913 erschien, folgte Descaves den Spuren der Kommunarden im Schweizer Exil.

Der Jura – Paradies der Kommunarden

Ihr Eden? Der Schweizer Jura, “rotes” Territorium mit anarchistischer Tendenz, wo sich Michail Bakunin und Pierre Kropotkin, die Theoretiker des libertären Sozialismus, aufhielten. Und wo die Kommunarden mit Freude führende lokale Sozialisten trafen, darunter James Guillaume und Adhémar Schwitzguébel.

Der von Descaves beschriebene, etwas verträumt wirkende Jura erscheint fast wie ein kollektivistisches Paradies: “Die damaligen Arbeitsbedingungen hatten die Bräuche aufgeweicht. Die lokale Uhrenindustrie bot zahlreichen heimischen Werkstätten Arbeit. Man konnte die Werkstatt ab und zu verlassen, um eine Pfeife zu rauchen, einen Kameraden zu treffen, oder man konnte sogar mal am Montag blau machen (…) Das Glück war da.”

In Sonvilier, im Haus des jungen Uhrengraveurs Adhémar Schwitzguébel, “liess dieser, wenn sich die Debatte in die Länge zog, von seiner jungen Frau eine Käsesuppe für seine Kontrahenten zubereiten, die man gemeinsam ass”, wie der Protagonist in Philémon erzählt. “Eines Tages im Jahr 1872 betrat Kropotkin (…) die Werkstatt. Man sagte ihm einfach: Setz Dich hin. Er setzte sich an den Rand einer Werkbank, hörte zu und kehrte zurück, um sich zu informieren (…) Ach, wie schön wäre es gewesen, in diesem helvetischen Tal zu leben!”

Einfluss auf die Anfänge des Sozialismus

In diesen Jahren, als die Hauptströmungen der internationalen Arbeiterbewegung nach und nach Gestalt annahmen, “spielten die Exil-Kommunarden durch ihre Schriften und Zeitungen bei der Entstehung des Sozialismus in der Schweiz eine wichtige Rolle”, sagt die Historikerin Marianne Enckell, die das Internationale Zentrum für Anarchismus-Forschung in Lausanne leitet.

Eher auf Seite des Anarchismus oder des Marxismus? “Damals waren die Grenzen noch nicht so klar und viele der ehemaligen Kommunarden wechselten oft von der einen zur anderen Seite”, sagt Enckell.

Die Kommunarden nahmen am politischen und gesellschaftlichen Leben in der Schweiz teil, indem sie Zeitungen und Solidaritätseinrichtungen wie etwa die “Marmite sociale” in Genf gründeten. Ihre revolutionären Projekte behielten sie jedoch für ihr Heimatland Frankreich auf.

Gustave Courbet in La Tour-de-Peilz

In Genf erhielten die “Roten” etwas Unterstützung, vor allem vom Industriellen Hugues Darier, einem Anhänger des Saint-Simonismus, und vom Maler Auguste Baud-Bovy. Dank einem gestohlenen Pass öffnete Baud-Bovy 1873 dem Kommunarden und Maler Gustave Courbet das Tor zur Schweiz.

Courbet zog nach La Tour-de-Peilz im Kanton Waadt, wo er bis zu seinem Tod 1877 arbeitete. Er hatte keine Eile gehabt, nach Frankreich zurückzukehren. Denn Paris verlangte von ihm 323’000 Francs für den Wiederaufbau der Vendôme-Säule, deren Abbruch während der Zeit der Pariser Kommune auf sein Drängen hin und unter seiner Leitung erfolgt war.

Der Geograf Elisée Reclus schloss sich dem Maler Courbet 1874 an; später ging er nach Clarens, wo er einen Teil seiner bewundernswerten Géographie universelle schrieb.

Neuer Wilder Westen: Der Gotthard

Andere “Rote” fanden in der Schweiz eine Art Wilden Westen, wo das abenteuerliche Leben die schmerzhafte Erinnerung an die gescheiterte Kommune milderte. Maxime Vuillaume, ein zum Tode verurteilter Journalist, wurde als Generalsekretär jenes Unternehmens eingestellt, das für den Bau des St.-Gotthard-Tunnels verantwortlich war.

“Altdorf. Das ruhige Leben. Fünf Jahre gingen so vorbei, glücklich”, schrieb Vuillaume dazu in seinen Cahiers rouges. “Jeden Tag voll bei der Arbeit, verfolgte ich Schritt für Schritt den Fortschritt des gigantischen Werkes. Den täglichen Fortschritt des unterirdischen Stollens. Die Art der Felsen, auf die wir stiessen. Die Tausend Zwischenfälle.”

Als die Arbeiter 1875 in den Streik traten, um die miserablen Löhne und die entsetzlichen Arbeitsbedingungen anzuprangern, fand Vuillaume sich auf der anderen Seite des Zauns, auf der Seite der “kapitalistischen Ausbeuter”.

Jean-Louis Pindy
Jean-Louis Pindy war einer der wenigen, die in der Schweiz blieben. Musée Carnavalet, Histoire de Paris

Wie Vuillaume und seine Kommunarden-Freunde Jean-Baptiste Dumay und François Dessesquelle, die auch auf der Gotthard-Baustelle waren, die Repression erlebten, die vier Streikenden das Leben kostete, ist nicht bekannt.

Nicht alle kehrten zurück

Als 1879/80 in Frankreich die Amnestiegesetze verabschiedet wurden, kehrten die meisten der ehemaligen Kommunarden nach Hause zurück. Aber nicht alle. So blieb etwa der zum Tod verurteilte Gouverneur des Hôtel de Ville unter der Pariser Kommune, der Zimmermann-Oberst Jean-Louis Pindy, in seiner Wahlheimat. Er war im Exil in La Chaux-de-Fonds Prüfer-Stanzer geworden und erhielt spät in seinem Leben sogar die Schweizer Staatsbürgerschaft.

Der Schriftsteller Lucien Descaves hatte Pindy 1906 in La Chaux-de-Fonds kennengelernt und ihn folgendermassen skizziert: “Er war klein, untersetzt, energisch, schaute gut zu sich und verhöhnte das Alter, wie er das Kaiserreich verhöhnt hatte, die Gefahr, das Unglück, den Tod (…) Man konnte immer darauf zählen, dass er auf Trab war, immer bereit zu agieren (…).”

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

LITERATURHINWEISE (alle Werke in Französisch):

Marc Vuilleumier: «Histoire et combats», Editions d’En Bas et Collège du travail.

Lucien Descaves: «Philémon, Vieux de la Vieille», Editions La Découverte.

Jacques Rougerie: «Paris libre 1871», Editions du Seuil.

Maxime Vuillaume: «Mes Cahiers rouges», Editions La Découverte.

La Commune de ParisExterner Link: Blog von Michèle Audin.

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