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Von der Pausenmilch zum Nationalgetränk

Degustationsstände und Milch-Bars haben dazu beigetragen, dass Milch populär wurde. SP

Das Buch "Milch für alle" befasst sich mit der Schweizer Milchwirtschaft im 20. Jahrhundert. Es ist auch die Geschichte darüber, wie die Milch zum Nationalgetränk wurde.

In einer Zeit, da der Milchpreis nach 15 Jahren erstmals wieder steigt, erklären die Autoren, wieso die Eidgenossenschaft damals einen Sektor verstaatlicht hat, der heute liberalisiert wird.

Kühe, Käse, Schokolade: Die Milch ist eng mit den Symbolen der helvetischen Identität verbunden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts nahm dieses Getränk im Alltag der Schweizer einen zentralen Platz ein, aber auch im politischen Leben des Landes.

Im Buch “Milch für alle”, das zum 100-Jahr-Jubiläum der Schweizer Milchproduzenten (SMP) erschienen ist, erzählen die Autoren an Hand von reichem Bildmaterial, wie aus dem Grundnahrungsmittel Milch ein Nationalgetränk wurde.

Service public

Vor dem Ersten Weltkrieg war das soziale Klima in der Schweiz angespannt, und die Preisschwankungen machten der Arbeiterklasse zu schaffen. In einer Zeit, da die Schwierigkeit, sich zu ernähren, noch Realität war, schien es den Behörden wichtig, den Milchsektor zu regulieren.

1916 beauftragte die Regierung in Bern den Zentralverband Schweizerischer Milchproduzenten, die Versorgung der Bevölkerung mit Milch sicherzustellen. Die verschiedenen Akteure (Bauern, Milchhändler, Käser), die sich bislang in die berühmten “Milchkriege” verstrickt hatten, wurden mit der Zeit zu Regulatoren des Milchmarktes.

“Es gab einen politischen Konsens über die Idee, dass alle Bewohner des Landes jeden Tag sollten Milch trinken können. Der Vertriebsweg entwickelte sich gemäss der Logik des Service public”, erklärt Peter Moser, Direktor des Archivs für Agrargeschichte und Ko-Autor des Buches.

Fotos belegen das kollektive helvetische Bewusstsein dieser Zeit. Eines zeigt zum Beispiel einen mit Milchflaschen beladenen Karren, der von einem Berner Kuhhirten gezogen und von Kindern geführt wird. Ein anderes den Milchhändler, der mit seinem VW-Bus von Quartier zu Quartier zog und seine Flaschen verkaufte.

Die Pasteurisierung, eine Revolution

Das Buch “Milch für alle” beschreibt die Entwicklung der Lebensbedingungen und die Konsumgewohnheiten der Schweizer Bevölkerung. Auch die Pasteurisierung ist ein Thema, die in den 1950er-Jahren zu einer Revolution führte.

Leicht verderblich wird die Milch nun dank der Pasteurisierung zur konservierbaren Ware im Tetrapak. Ein Fortschritt, von dem der Verteiler Migros, der voll im Wachstum war, seinen Nutzen zog. Migros profitierte von der noch immer verankerten Gewohnheit, sich jeden Tag seine Milch zu holen, um Kunden in seine Filialen zu locken.

Mitte des 20. Jahrhunderts wird der ganze Milchsektor vom technischen Fortschritt erfasst. Die Kühe sind “besser” geworden, d.h. sie geben mehr Milch, die Dorf-Milchhändler werden durch Sammelstellen und Verteilzentren ersetzt und die Käser organisieren sich gegen die Industrialisierung.

Propagandazentrale

In einem System, das die allgemeine Versorgung anstrebt, stellt sich dennoch die Frage des Milchüberschusses. “Bis zum Ersten Weltkrieg war Milch sehr rar, Werbung war also nicht nötig. Nach dem Krieg jedoch wurde die Produktion überschüssig, so dass Werbung eingesetzt werden musste”, betont Peter Moser.

“Trinkt Milch!” forderte das erste Plakat aus dem Jahr 1922. Im selben Jahr wurde die Propagandazentrale der schweizerischen Milchwirtschaft gegründet. Es ist der Auftakt zu einer Reihe von Werbekampagnen, welche die Milch als Nationalgetränk anvisierte.

Neben Degustationsständen zog die Zentrale weitere Register und machte Werbung auf Plakaten, in Zeitungen und Zeitschriften, Filmen usw., in der sie die Vorzüge der Milch pries. Sie besetzte auch öffentlichen Raum. Seit den 1930er-Jahren häufte sich die Verteilung von Milch an Schulen (“Pausenmilch”), in der Armee, an Festen, Freizeitorten oder an Bahnhöfen.

Zwischen Verstaatlichung und Liberalisierung

Der Slogan, der 1960 im ganzen Land verbreitet wurde, war klar und direkt: “Starke Männer trinken Milch.” Der Höhepunkt der Propaganda war erreicht. Gleichzeitig aber wurde die Milchverteilung an Schulen kritisiert. Gewisse Ärzte beurteilten diese Idee gar als “dumm”. Der Magen der Schüler, die 200 Gramm Milch getrunken hätten, sei zur Zeit des Mittagessens noch übervoll.

Äusserungen, die bei Diätexperten von heute ein Echo finden. Trotz diesen Einwänden aber steigt in zahlreichen Ländern wie China oder Russland die Nachfrage nach Milch stark an, was zu einer Erhöhung des Milchpreises führt. Zuvor war der Preis eher gesunken

Peter Moser: “Damals fand es die Schweiz notwendig, einen Sektor zu verstaatlichen, der heute wieder liberalisisert wird. Da die Gesellschaft Preisschwankungen gerade bei Lebensmitteln schlecht goutiert, könnte sich diese Entwicklung aber schon bald wieder ändern”, sagt der Autor.

swissinfo, Carole Wälti
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)

Um Spannungen zwischen Bauern und Arbeitern aufgrund von Milchpreis-Schwankungen zu vermeiden, griffen die Behörden in die schweizerische Milchwirtschaft ein.

Während des Ersten Weltkrieges legte der Bundesrat den Milchpreis für die Bauern sowie den Verkaufspreis im Laden fest.

Produktion, Weiterverarbeitung, Handel und Konsum der Milch wurden während der beiden Weltkriege vom Staat kontrolliert und rationiert.

Ende der 1970er-Jahre führte der Bund ein strengeres Kontrollsystem für die Milchproduktion ein: Die Milchkontingentierung.

Im Jahr 2003 beschloss das Parlament, die Kontingentierung schrittweise aufzuheben. Die Liberalisierung des Schweizer Milchmarktes wird 2009 abgeschlossen sein.

Konsum pro Jahr und Kopf in der Schweiz:
79 Liter Trinkmilch
19,7 Kilo Käse
17,8 Kilo Jogurt
7,8 Liter Milchgetränke
6,1 Liter Rahm
5,6 Kilo Butter

Das Buch “Milch für alle” von Peter Moser und Beat Brodbeck erschien 2007 im Verlag für Kultur und Geschichte hier+jetzt (in Deutsch und Französisch).

Es enthält reiches Bildmaterial, Dokumente und Analysen zur Milchwirtschaft und Milchpolitik in der Schweiz im 20. Jahrhundert.

Eine Kuh frisst pro Tag rund 200 Kilogramm Gras, 2,5 kg Kraftfutter (Getreide, Futtermais) sowie 200 Gramm Salz. Sie trinkt etwa 50 Liter Wasser.

Pro Tag gibt eine Kuh durchschnittlich 24 Liter Milch. Die Umwandlung von Gras in Milch dauert zwei bis drei Tage.

Je nach Rasse und Futter liefert eine Kuh pro Jahr zwischen 5000 und über 10’000 Liter Milch.

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