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Von Wanderfliegen und tierischen Chirurgen

Moskitos entwickeln ihr Immunsystem vielleicht, um Killer-Chemikalien zu bekämpfen. Alain Germond/Neuchâtel Natural History Museum

Das Naturhistorische Museum Neuenburg zeigt in der Sonderausstellung "Fliegen" die vielfältige Welt der Zweiflügler.

Am Ende der Ausstellung sprechen die Besucher und Besucher ihr Urteil über das Tier, das angeklagt ist, den Menschen zu schaden: Freispruch oder Todesstrafe?

“Unendlich”, das ist das Wort, das Jean-Paul Haenni im Zusammenhang mit Fliegen in den Sinn kommt. Eine unendliche Vielfalt, eine unendliche Anzahl.

“Ich kann aus dem Haus gehen und direkt daneben, in einer Wiese oder im Wald, etwas Neues entdecken.” Jean-Paul Haenni ist Kurator am Naturhistorischen Museum Neuenburg und Spezialist für Zweiflügler.

Zu ihnen gehören unter anderem die Mücken, die Bremsen und eben die Fliegen. Wie der Name sagt, besitzen die Zweiflügler, im Gegensatz zu den allermeisten anderen Insekten, nur ein einziges Flügelpaar. Die Idee, die Welt dieser Insekten in einer Ausstellung zu zeigen, hatten Haenni und seine Kollegen schon länger. Nun haben sie sie umgesetzt.

Unentdeckte Diversität



Rund 134’000 verschiedene Zweiflüglerarten hat man bisher auf der Welt wissenschaftlich beschrieben, doch das sei weit entfernt von der Realität.

“Eine Million, zwei Millionen, drei Millionen” – auch der Fachmann kann nicht sagen, wie viele es tatsächlich sind.

In der Schweiz kennt man bisher rund 6500 Arten, und auch das sind höchstwahrscheinlich nicht alle.

“Die Schweiz ist in dieser Beziehung nicht gut untersucht”, sagt der Insektenforscher. Er geht davon aus, dass es vergleichbar viele sein müssten – wie im besser erforschten Deutschland, also etwa 9000 Arten.

Besonders die Kleinen sind sich sehr ähnlich. Nur ihre Genitalien zeigen markante Unterschiede, und daran kann man sie unterscheiden.

Ab in den Süden

Die Zweiflügler haben alle denkbaren Orte besiedelt, einige leben sogar in Ölpfützen. Und es gibt sogar Zugfliegen, Wanderfliegen. Im Spätsommer und Herbst verlassen sie Zentraleuropa und ziehen über die Alpen nach Süden, bevorzugt über den Cou- und Bretoletpass zuhinterst im Val d’Illiez im Wallis.

Es sind vor allem Schwebfliegen, die wegziehen. Diese kleinen Insekten, ein bis zwei Zentimeter gross, können Hunderte von Kilometern zurücklegen.

Schon in den 60-er Jahren hat man sie mit fluoreszierender Farbe markiert um festzustellen, wie schnell sie vorwärtskommen: Immerhin 12 bis 18 Kilometer in der Stunde, hat man festgestellt.

Warum sie allerdings wegziehen, weiss man bis heute nicht. Auf viele andere Fragen gibt die Ausstellung hingegen Antworten: “Wie laufen Fliegen an der Decke? Kann eine Fliege Trüffel finden?” Oder, per Anschauungsunterricht: “Wie zersetzen Fliegenmaden einen Kadaver?”

Gefürchtete Erreger



“Wahre Wunderwelten von seltsamer und dezenter Schönheit.” So beschreiben die Ausstellungsmacher, was man dann auch unter dem Mikroskop sehen kann: metallisch glänzende Körper, Flügel mit Netzen und Punkten, Perlmuttglanz und Tigermuster.

Manche dieser Schönheiten sind aber auch gefährlich. Sie schädigen die Landwirtschaft oder übertragen Krankheiten, darunter das Dengue-Fieber, die Malaria oder die Flussblindheit.

Doch sie werden auch zum Nutzen der Menschen eingesetzt. Die Maden der Goldfliege zum Beispiel sind wahre Bio-Chirurgen. Sie fressen alles tote Gewebe, und zwar so genau, wie kein Chirurg es könnte.

Schon früher nutzte man diese Eigenschaft und setzte die Larven in schlecht heilende Wunden. Heute erlebt diese Methode eine kleine Renaissance. Und auch die Drosophila spielt in der Medizin eine grosse Rolle. Die kleine Taufliege lebt in unzähligen Labors als Modellorganismus für genetische Untersuchungen.

Schuldig oder nicht schuldig?

Am Schluss der Ausstellung wird das Publikum in einen Gerichtssaal gebeten, um als Geschworene ein Urteil abzugeben und abzuwägen, was sie in den insgesamt 11 Räumen gesehen und erlebt haben.

Auch im Mittelalter hatten Prozesse gegen Tiere stattgefunden. Insekten etwa wurden aufgefordert, dorthin zu verschwinden, wo sie der Landwirtschaft nicht schaden könnten. Sollten sie sich widersetzen, drohte die Exkommunikation!

Im Prozess im Neuenburg verlangt der Staatsanwalt die Todesstrafe. Lästig, niederträchtig, unhygienisch, nennt er die Fliegen, und Parasiten, Krankheits-Erreger, Aasfresser.

Die Verteidigerin dagegen plädiert auf Freispruch: “Sollen wir, nur weil sie uns einige Schwierigkeiten bereiten, alle anderen verurteilen?”, fragt sie und ruft: “Die Erde braucht die Fliege.”

Rund 20’000 Menschen haben die Ausstellung in den ersten drei Monaten besucht. Jean-Paul Haenni freut sich über ihr Urteil: Die meisten Besucherinnen und Besucher sprechen die Fliege frei.

swissinfo, Antoinette Schwab

Die Ausstellung “Fliegen” in Neuenburg dauert bis zum 6. März 2005.

Die Informations-Tafeln sind in Deutsch und Französisch gehalten, den Katalog gibts nur in Französisch.

In der Schweiz sind rund 6500 verschiedene Zweiflügler bekannt, dagegen nur 400 Vögel und 100 Säugetiere.

Die Sonderausstellung “Fliegen” zeigt die Welt der Zweiflügler, zu denen u.a. auch die Mücken und Bremsen gehören. Die Fliegen sind jedoch die grösste Gruppe.

In 11 Räumen bekommt man einen Eindruck von der Vielfalt der Zweiflügler, ihrer Bedeutung für die Ökosysteme und ihrer Wirkung auf die Menschen.

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