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Wenn Weihnachten kein Freudentag ist

Nicht für alle ist Weihnachten ein Freudentag. Keystone

Während sich viele bei den Weihnachtseinkäufen auf die Füsse treten, stehen einige für eine warme Suppe an. Auch in der Schweiz gibt es Armut.

Ein Achtel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Ursachen und Facetten eines verborgenen, aber sehr realen Phänomens.

“Für ein reiches Land wie die Schweiz, ist Armut ein gesellschaftlicher Skandal”, klagt Jürg Krummenacher. Der Präsident der Caritas Schweiz lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Realität, die von vielen nicht zur Kenntnis genommen wird.

Diese Realität versteckt sich nicht nur in den dunklen Winkeln der Bahnhöfe oder öffentlichen Parkanlagen, sondern auch hinter den Haustüren unserer Nachbarn.

2003 mussten 300’000 Menschen kantonale Unterstützung in Anspruch nehmen, um über die Runden zu kommen. “Fast die Hälfte der Menschen, die Anspruch auf Unterstützung hätte, beansprucht diese nicht”, erklärt jedoch Caroline Regamey vom Evangelischen Sozialzentrum für den Kanton Waadt in Lausanne.

Gemäss den Zahlen der Caritas leben 850’000 Menschen in unserem Land unter dem Existenzminimum.

Armutsgrenze bei 2450 Franken

“Die Definition von Armut stützt sich auf die Normen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS)”, erklärt Eric Crettaz, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesamt für Statistik (BFS).

“Für eine Einzelperson wird 2450 Franken pro Monat und für eine Familie mit zwei Kindern mit 4550 Franken berechnet. Wer nach den Sozialabzügen und den Steuern über einen Betrag verfügt, der unterhalb dieser Grenze liegt, gilt als arm”, erläutert er im Gespräch mit swissinfo.

Immer mehr arbeitslose Jugendliche

Frances Trezevant, Sprecherin des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks (SAH), zählt die wichtigsten Gründe auf, die zu einer schwierigen wirtschaftlichen Lage führen: ungenügende Mindestlöhne, Arbeitslosigkeit und mangelnde Ausbildung. “Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit beunruhigt uns sehr”, ergänzt sie.

Die Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (seco) belegen dieses Phänomen, das von der SAH-Sprecherin als “Bombe mit Zeitzünder” bezeichnet wird: Im November waren 6,4% der 20- bis 24-Jährigen ohne Arbeit, was fast dem Doppelten des nationalen Durchschnitts (3,9%) entspricht.

Weitere Faktoren für eine Verarmung sind Krankheiten, Unfälle oder Invalidität.

Kinder als Armutsfalle

Die Armut in der Schweiz wird nicht nur durch Obdachlose, Migranten und Flüchtlinge verkörpert, sondern betrifft auch eine breite Schicht der Bevölkerung, die scheinbar ein Leben wie alle anderen führt.

Caritas-Direktor Krummenacher weist darauf hin, dass neben Selbstständigerwerbenden ohne Angestellte vor allem Alleinerziehende mit Kindern und kinderreiche Familien betroffen sind. “In unserer Gesellschaft haben sich Kinder zu einem Armutsrisiko entwickelt, da sie hohe Kosten verursachen.”

Erwerbstätige Arme

Viele Menschen leben unter der Armutsgrenze, obwohl sie einer bezahlten Arbeit nachgehen. Im Fachjargon werden diese Menschen als Working Poor bezeichnet. “2003 waren 44% der Armen Working Poor”, gibt Crettaz vom BFS an.

In der Kategorie der erwerbstätigen Armen sind Menschen ausländischer Herkunft – die über keine nachobligatorische Ausbildung verfügen oder deren Abschlüsse in der Schweiz nicht anerkannt sind – und allein erziehende Frauen mit den höchsten Anteilen vertreten.

Armut kennt kein Alter: Neben 7,4% der Erwerbspersonen im Alter zwischen 20 und 59 Jahren, was gegenüber 2002 einer Erhöhung um 1% entspricht, sind auch Kinder und Jugendliche betroffen. Gemäss Schätzungen des seco, leben zwischen 200’000 und 250’000 Minderjährige in armen Familien.

Alarmglocken im Tessin?

Ein Vergleich auf regionaler und kantonaler Ebene ist gegenwärtig nicht möglich, da keine spezifischen Daten vorliegen. Der Mitarbeiter des BFS empfiehlt, von der Zahl der Working Poor auszugehen, die einen guten Anhaltspunkt für die Armutsquote darstellt, auch wenn kein wissenschaftlich nachgewiesener Zusammenhang besteht.

“Da sich die Zahl der Armen in der gleichen Weise wie die Zahl der Working Poor entwickelt, ist anzunehmen, dass die Armutsquote im Tessin über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt liegt”, erklärt Crettaz.

Mit einem Anteil von 12,6% ist der italienischsprachige Kanton jene Region, die die höchste Zahl von erwerbstätigen Armen aufweist. In der Westschweiz ist die Situation weniger dramatisch (8,9%), während sich in der Deutschschweiz mit 6,6% ein deutlich günstigeres Bild abzeichnet.

Unterstützung der Familien

“Die Zahl der Armen steigt, was durch die Zunahme der Sozialhilfefälle bestätigt wird”, betont Krummenacher. 2003 erhöhte sich deren Zahl gegenüber dem Vorjahr um 10%.

Der erste Schritt zu ihrer Bekämpfung muss laut Krummenacher darin bestehen, die Familien zu unterstützen. “In erster Linie muss die Armut der Familien gelindert werden, indem beispielsweise auf nationaler Ebene Ergänzungs-Leistungen und ein Bundesgesetz zur Erhöhung der Familienzulagen eingeführt werden.”

Die Unterstützungsprojekte der Hilfswerke, sie reichen von Gratismahlzeiten bis zu Programmen zur beruflichen Wiedereingliederung, können keine Wunder bewirken. SAH-Sprecherin Trezevant macht klar: “Allein können wir die Situation nicht lösen, da Armut nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein politisches Problem ist.”

swissinfo, Luigi Jorio
(Aus dem Italienischen von Stefano Fiore)

Nach Schätzungen der Caritas leben 850’000 Arme in der Schweiz.
Der Anteil der Stadt-Bevölkerung, die 2003 von der Gemeinde Sozialhilfe beanspruchte, liegt zwischen 6,5% in Basel und 1,3% in Lugano.

Die Sozialhilfe gewährleistet Menschen, die in der Schweiz leben und sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befinden, das Existenzminimum.

Dies gilt auch für Asylsuchende, vorübergehend Aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge.

Je nach Kanton sind der Umfang der Unterstützung und die öffentliche Stelle, die sie erbringt, unterschiedlich.

Die Bezügerinnen und Bezüger haben Anspruch auf eine Karte, mit der sie beispielsweise Produkte verbilligt beziehen können, sie erhalten Mahlzeiten-Gutscheine oder können in einer Schlafstelle übernachten.

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