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“Schockierend, wie schnell Schuldenfalle zuschnappt”

Keystone

In der Schweiz sind auch viele Junge verschuldet, weil sie den Verführungen des Konsums nicht widerstehen konnten. Jetzt reagieren die Kantone mit Präventionskursen an Schulen. Augenschein an der Berufsschule Moutier im Berner Jura.

“Einer von fünf jungen Menschen in der Schweiz ist mit finanziellen Problemen konfrontiert. Und über 80% jener, die zu uns in die Schuldenberatung kommen, waren schon vor dem 25. Altersjahr erstmals verschuldet.”

Die Fakten, mit denen Karim Bortolussi vom protestantischen Sozialzentrum Bern-Jura (CSP ) die rund 20 Absolventen des zweiten Lehrjahres konfrontiert, sitzen. Die Jünglinge im Alter zwischen 17 und 24 Jahren, die sich an der Berufsschule Moutier zu Mechanikern und Restauratoren ausbilden lassen, werden sichtlich nachdenklich.

Praktische Ratschläge dominieren den Präventionslehrgang. Bortolussi spricht über die Bedeutung eines persönlichen Budgets, der Krankenkassenprämien und Steuern, den Konsequenzen von Verträgen z. B. für Handy oder Fitnesszentrum, den Zinsen und Gebühren für Kredite und Leasing. Kredit- und Kundenkarten seien die eigentlichen Fallstricke in die Verschuldung.

Noch wichtiger aber ist die Demonstration, wie einfach man in die Schuldenspirale geraten kann und wie schwierig der Weg daraus ist. “Nie einen Kredit zur Rückzahlung von Schulden aufnehmen”, lautet Karim Bortolussi oberster Grundsatz. 

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“Man muss das Verursacherprinzip anwenden”

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Bereits 2007 hatte die Kommission empfohlen, ein Prozent des Umsatzes der Kreditinstitute in die Schuldenprävention zu stecken. Im letzten Juni sagte eine Mehrheit des Nationalrates dazu Nein. Maudet, freisinniger Sicherheitsdirektor des Kantons Genf, hält auch nach dieser Niederlage an der Forderung der EKKJ fest. swissinfo.ch: Ist die Verschuldung junger Menschen in der Schweiz ein Problem?…

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“Mit Leasing Träume verkaufen” 

In der Klasse zeigen sich solche, die dazu tendieren, ihren sozialen Status durch Konsum auszudrücken. Andere dagegen agieren vorsichtig, was den Griff zum Portemonnaie und zur Kreditkarte betrifft.

“Leasing ermöglicht den Kauf eines neuen Autos, das man aber erst später bezahlen muss”, frohlockt ein junger Mann. “Mit dem Leasing verkauft man Ihnen einen Traum”, lautet Bortolussis Replik. Eher noch rät er zu einem Autokauf auf Kredit, denn “es gehört Ihnen und Sie können es verkaufen, sollten Sie in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Aber noch besser etwas erst kaufen, wenn das Geld auch tatsächlich vorhanden ist!”

Lehrer Jacques Stämpfli ist sehr froh über den Besuch des externen Spezialisten, der “ohne zu Verurteilen und ohne Schwingen der Moralkeule” informiert habe. “Einige Schüler legen grossen Wert auf die äussere Erscheinung, auf das neueste Mobiltelefon oder rassige Autos. Zudem steigen die kommerziellen Ansprüche”, so Stämpfli.

Die Ablösung aus der Familie hinein in das Berufsleben kann schwierig sein, und der Lehrabschluss ist nicht zwingend mit einem hohen Verdienst gleichzusetzen.

Laut einer Studie der Universität Genf verdient ein Zehntel aller Lehrlinge nach Abschluss ihrer Ausbildung weniger als 3986 Franken pro Monat. Dieser Betrag markiert laut Bundesamt für Statistik (BfS) die Niedriglohnschwelle. “Junge Erwachsene neigen oft dazu, ihr Einkommen zu überschätzen. Gleichzeitig suggeriert die Werbung, dass alles bezahlbar sei”, mahnt Karim Bortolussi.

In der Schweiz gibt es nur wenig detaillierte Daten über die private Verschuldung.

Nach der letzten Studie des Bundesamtes für Statistik (BfS) aus dem Jahr 2008, die einen europäischen Quervergleich erlaubt, lebt 18% der Wohnbevölkerung in der Schweiz in einem Haushalt, der mindestens einen Kredit oder ein Darlehen aufgenommen hat (ohne Hypotheken).

Fast 8% der Bevölkerung oder 570’000 Menschen leben in einem Haushalt mit überzogenem Konto oder erheblichen Zahlungsrückständen.

Die Zahl der Strafverfahren steigt stetig, wobei das BfS nicht zwischen der Verschuldung von Privaten und Unternehmen unterscheidet.

Krankenversicherer reichen jedes Jahr wegen nicht bezahlter Prämien und Rechnungen eine Million Klagen in Höhe von einer Milliarde Franken ein. Dies bedeutet laut santésuisse, dem Dachverband der Krankenversicherer, eine Erhöhung von 30% in den letzten fünf Jahren.

Laut dem Schweizer Dachverband Schuldenberatung Schweiz erfordern die Zahlen grössere Beachtung. Einelternfamilien, Familien mit drei oder mehr Kindern, Arbeitslose und Ausländer sind am stärksten von der Schuldenproblematik betroffen .

Zuerst Verwandschaft anpumpen

In der anonymen Umfrage, die am Schluss des Kurses auf die Lehrlinge wartet, geben zwischen 15% und 20% der Auszubildenden an, sich bereits einmal verschuldet zu haben, meist bei Personen aus ihrem näheren Umfeld.

Schon eine kleine Summe kann laut dem Schuldenberater verhängnisvoll sein und eine Kaskade an Problemen auslösen. Sie versuchten zuerst, selbst einen Ausweg zu finden, indem sie einen Kredit aufnehmen oder die Dienste einer Privatfirma zur Schuldensanierung in Anspruch nehmen, die sehr hohe Zinsen und Gebühren verrechneten. “Wenn sie dann nach ein paar Jahren zu uns kommen, ist ihre Situation oft schon sehr desolat”, berichtet Karim Bortolussi .

Sébastien Mercier, Rechtsanwalt bei der Caritas und Mitglied der Schweizer Schuldenberatung , einer Organisation, der rund 40 Schuldenberatungen von Kantonen und Gemeinden angehören, anerkennt, dass die präventiven Massnahmen an den Schulen sehr wichtig sind. Ausreichend sei das aber noch nicht.

“Man müsste Arbeitslose, Alleinerziehende und junge Eltern, die unter grossem kommerziellem Druck stehen, noch gezielter erreichen können. Aber auch die Migranten, die oft niedrige Einkommen haben, aber hohe finanzielle Lasten tragen müssen.” Viele schickten beispielsweise regelmässig Geld an ihre Familien in der Heimat, so Mercier.

Die Anstrengungen für eine verstärkte Prävention werden aber oft durch Budgetbeschränkungen von Kantonen und Gemeinden gebremst. Im Schweizer Parlament dominiert zudem eine bürgerliche Mehrheit, welche die individuelle und wirtschaftliche Freiheit hochhält. Im Juni wies der Nationalrat das Ansinnen zurück, Geldverleiher müssten eine Steuer zur Finanzierung der Prävention abliefern, ähnlich dem Muster der Spielcasinos. Diese müssen einen Teil der Einnahmen für die Prävention der Spielsucht verwenden.

“Rufer in der Wüste” 

“In einem Land, das Banken und Kreditinstituten viel Platz einräumt, haben wir manchmal das Gefühl, Rufer in der Wüste zu sein”, sagt Sébastien Mercier. Für ihn ist Verschuldung eindeutig ein Problem, das man in der Schweiz nicht wahrnehmen wolle. “Dabei sind unsere Schuldenberatungen überlastet, insbesondere in der lateinischen Schweiz”, sagt er.

Zurück in der Klasse von Jacques Stämpfli. In Gruppen-Workshops testen die Lehrlinge, wie anfällig sie auf Markenprodukte sind. Am Schluss sind allen die Augen aufgegangen. “Ich bin schockiert zu sehen, wie schnell man in die Schuldenfalle geraten kann. Der Kurs motiviert mich, vorsichtiger zu sein “, sagt ein Lehrling. “Es war sehr interessant und ich möchte mehr darüber wissen “, sagt ein anderer. Nachdenklich sagt ein weiterer Kollege, “ich bin ein wenig besorgt bei dem Gedanken, mit der Schuldenfrage umgehen zu müssen.”

Der Kurs und die Unterrichtsmaterialien sollten auch dazu dienen, die Diskussionen in die Familien zu Hause zu tragen, so Karim Bortolussi. “Wir haben mehrere Fälle, in denen Eltern auf Anraten ihrer Kinder zu uns gekommen sind und um Rat bei der Entschuldung gefragt haben”, erzählt er.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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