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Tangentopoli: Wie die italienische Korruption die Schweiz veränderte

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Er brachte 1992 die Lawine ins Rollen - mit einer lächerlichen Deliktsumme von wenigen Tausend Euro: Mit der Festnahme Mario Chiesas (links) begann Mani Pulite, die bis heute grösste Antikorruptions-Aktion Italiens. Die betraf auch die Schweiz, auf deren Banken viele illegale Gelder lagerten. Keystone / Luca Bruno

Vor dreissig Jahren begann Mani Pulite: Die Aktion "Saubere Hände" war der grösste Antikorruptions-Feldzug, den Italien je gesehen hat. Das Beben erschütterte auch die benachbarte Schweiz, in der viele illegale Gelder lagen. Drei Staatsanwält:innen aus den beiden Ländern erinnern sich.

Am 17. Februar 1992 begann alles mit einer kleinen Bestechung. Sieben Millionen Lire, nach heutiger Rechnung ein paar Tausend Euro, waren der Auslöser für Mani Pulite, die grösste Antikorruptions-Offensive, die es je in Italien gab. Sie bedeutete auch das Ende der sogenannten Ersten Republik.

Mario Chiesa, Mailänder Mitglied der Sozialistischen Partei Italiens (PSI) und Leiter eines Pflegeheims, wurde auf frischer Tat ertappt, als er das Geld vom Inhaber einer Reinigungsfirma einsteckte.

“Steuer” bei Vertragsabschluss

Nach seiner Inhaftierung und einer anfänglichen Phase des Schweigens “sang” Chiesa und nannte Namen und deckte ein wahrhaftiges Korruptionssystem auf: In Italien waren Bestechungsgelder zu einer Art Steuer geworden, die bei fast allen Verträgen verlangt wurde. Zum Vorteil von Politiker:innen und Parteien aller Couleur, vor allem aber von denen, die an der Macht waren, wie die PSI und die Christdemokraten (DC).

Der Skandal, der unter dem Namen Tangentopoli bekannt wurde, hatte auch in der Schweiz grosse Auswirkungen. Das schmutzige Geld aus den Zulagen, die an Beamte und Politiker flossen, landete auf Schweizer Konten. Hunderte von verdächtigen Konten wurden von den Schweizer Behörden gesperrt und die Gelder beschlagnahmt.

Die ersten waren jene, die mit Mario Chiesa in Verbindung standen. Zwei Bankkonten in Lugano, die auf den Namen seiner Sekretärin lauteten und auf denen die Namen berühmter Mineralwasser – Levissima und Fiuggi – standen, veranlassten den Staatsanwalt Antonio Di Pietro, dem Anwalt von Chiesa etwas zu sagen, das berühmt wurde: “Herr Anwalt, sagen Sie Ihrem Mandanten, dass das Mineralwasser am Ende ist”.

Antonio di Pietro am Apparat

Im Tessin antwortete auf dieses Rechtshilfeersuchen Carla Del Ponte, die spätere Bundesanwältin und Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag: “Ich erinnere mich genau an den ersten Anruf von Antonio Di Pietro, der mir den Beginn der Ermittlungen erklärte und die Übermittlung eines Rechtshilfeersuchens zur Identifizierung dieser Konten ankündigte”, sagt Del Ponte und spult das Band der Erinnerungen zurück.

Dieser erste Kontakt war für die Leiterin der Tessiner Staatsanwaltschaft der Beginn einer sehr intensiven Arbeitsphase, in der allein im Jahr 1993 aus Italien 242 Ersuchen um Rechtshilfe eingingen: “Nach diesem ersten Rechtshilfe-Ersuchen kam eine wahre Lawine ins Rollen, und der Kontakt mit den italienischen Kollegen war direkt und kontinuierlich. Obwohl ich über eine gewisse Erfahrung im Kampf gegen die Finanzkriminalität verfügte, muss ich zugeben, dass ich über die Anzahl der Bankkonten erstaunt war, die im Tessin von mehr oder weniger bekannten italienischen Persönlichkeiten eröffnet worden und auf denen die Korruptionsgelder deponiert worden waren”.

Über 400 Rechtshilfe-Ersuchen

“Von 1992 bis 1999 haben wir von Mailand aus 613 internationale Rechtshilfe-Ersuchen verschickt, davon 442 in die Schweiz. Praktisch drei Viertel unserer Anfragen waren an die benachbarte Eidgenossenschaft gerichtet”, sagt Gherardo Colombo, der mit anderen Staatsanwält:innen für den Skandal um Mani Pulite steht. Er hat die Daten aus seinen Archiven ausgegraben.

Nicht alle Rechtshilfe-Ersuchen wurden jedoch positiv beantwortet: “Der Prozentsatz der positiven Antworten aus der Schweiz lag bei 57%, was bedeutet, dass fast die Hälfte unserer Ersuchen nicht weiterverfolgt wurde. In anderen Ländern wie Lichtenstein oder anderen Steuerparadiesen war die Rücklaufquote indes viel geringer”, sagt der ehemalige Staatsanwalt am Telefon. Er fügt hinzu, dass man selbst im Falle einer Antwort “monatelang auf Informationen über ein Bankkonto warten” musste.

Dennoch erinnert sich Gherardo Colombo an die guten und fruchtbaren Beziehungen zu seinen Schweizer Kollegen:innen: “Ich erinnere mich an die Reisen, die ich mit meiner Kollegin Ilda Boccasini in die Schweiz unternommen habe, nach Lugano und dann auch nach Bern, als Carla Del Ponte Bundesanwältin wurde. Ich kann sagen, dass es eine grosse Hilfsbereitschaft seitens der Schweizer Kolleg:innen gab, auch wenn ich mich bei einigen vielleicht an einen übermässigen Formalismus erinnere”.

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Treiber:innen hinter Mani Pulite: Die italienischen Ermittler:innen Ilda Boccassini und Gherardo Colombo. Keystone / Daniel Dal Zennaro

“Nachhilfe” für italienische Anklage

“Selbst in Genf haben wir Dutzende von Rechtshilfe-Ersuchen erhalten. Sie kamen nicht alle auf einmal, aber ich habe noch nie eine Situation erlebt, in der ein einzelnes Land uns um so viel Zusammenarbeit gebeten hat”, sagt Bernard Bertossa. Er war von 1990 bis 2002 Generalstaatsanwalt des Kantons Genf, der nach dem Tessin am zweitstärksten von den Mani-Pulite-Ermittlungen betroffen war. Der ehemalige Ministerpräsident und frühere Sekretär der PSI, Bettino Craxi, hatte sein eigenes Konto in der Stadt Calvins.

Der ehemalige Genfer Richter und Antikorruptions-Experte bringt die Schwierigkeiten der Rechtshilfe auf den Punkt: “Man muss sich den Kontext der damaligen Zeit vor Augen halten. Heute ist die internationale Rechtshilfe in Strafsachen stark vereinfacht worden, während es damals für jedes Rechtshilfe-Ersuchen noch mehr Möglichkeiten gab, Rechtsmittel einzulegen. Dadurch verlängerte sich die Zeit, die für die Übermittlung von Informationen benötigt wurde, erheblich.

Die Rechtshilfe hatte auch ihre Grenzen

Bernard Bertossa musste intervenieren, um vor den Richtern die Rechtshilfe zu verteidigen, welche die Genfer Behörden Italien gewähren: “Die Förderung der internationalen Rechtshilfe war Teil meines Programms, als ich zum Leiter der Genfer Staatsanwaltschaft gewählt wurde, daher war es offensichtlich, dass wir zusammenarbeiten wollten”, erklärt er. Bertossa erinnert aber auch daran, dass “die Rechtshilfe-Ersuchen nicht immer richtig fokussiert waren, was die Einsprüche der Schweizer Anwälte der betroffenen Personen und Unternehmen in der Schweiz erleichterte”.

Aus diesem Grund schlug er 1994 seinen italienischen Kollegen vor, nach Genf zu kommen, um zu besprechen, wie die Amtshilfe-Ersuchen verbessert werden könnten. “Es war zum Beispiel nicht möglich, jene Rechtshilfe-Ersuchen zu akzeptieren, die einen Verstoss gegen das italienische Gesetz über die Finanzierung politischer Parteien als Straftatbestand angeben, weil es diesen in der Schweiz nicht gab. Auch die Bestechung ausländischer Beamter wurde in der Schweiz nicht als Straftat angesehen.

Das Vermächtnis von Tangentopoli

“Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Banken damals nichts von diesen Konten bemerkt haben, auf denen die Früchte der Korruption gelandet sind,” sagt Carla Del Ponte. Sie erzählt, dass sie selbst eine Untersuchung gegen Unbekannt im Tessin eingeleitet hatte, die aber nach Einsprüchen der Banken eingestellt wurde.

Rückblickend auf diese Jahre erinnert die ehemalige Staatsanwältin daran, dass Mani Pulite für den Schweizer und Tessiner Finanzplatz ein grosser negativer Werbegag war: “Tangentopoli hatte sicherlich eine präventive Wirkung und hat zusammen mit anderen Skandalen die Umsetzung des seit 1997 geltenden Bundesgesetzes über die Geldwäscherei beschleunigt. Ein Gesetz, das wir Staatsanwälte seit langem gefordert hatten.”

1996 gehörten Gherardo Colombo und Bernard Bertossa zusammen mit anderen europäischen Kollegen:innen zu den Initiant:innen des so genannten Genfer Appells. Es war dies eine Initiative, die darauf abzielte, das Bewusstsein für die Grenzen und Schwierigkeiten der justiziellen Zusammenarbeit in Europa im Kampf gegen Korruption und schwerste Formen der Finanzkriminalität zu schärfen.

Die Offshore-Konstrukte rücken in den Fokus

Staatsanwälte und Richterinnen aus mehreren Staaten waren in Genf auf die Mittel und Taktiken aufmerksam geworden, mit denen Anwälte den reibungslosen Ablauf der Amtshilfeverfahren behinderten. Bertossa vermittelte ihnen auch den Fakt, dass es das Konstrukt der Offshore-Konten Grossbetrügern und Kriminellen ermöglichten, der Justiz zu entkommen.

“Jedes Mal, wenn wir Staatsanwälte und Staatsanwältinnen versuchten, Finanzkreisläufe zu verfolgen, um die Mechanismen der Korruption zu verstehen, stiessen wir auf Grenzen und hatten Schwierigkeiten, Bankinformationen zu erhalten, manchmal auch in der Schweiz.”

In Genf fanden die italienischen, spanischen, französischen und belgischen Staatsanwält:innen in Bernard Bertossa einen starken Verbündeten in diesem Kampf. Das war damals in der Schweiz keineswegs selbstverständlich: “Genf war eine Art Symbolstadt, hier kollidierten die Interessen der von der Korruption betroffenen Ländern und der Schweiz, in der das Geld aus dieser Korruption gewaschen wurde”, sagt der ehemalige italienische Staatsanwalt.

Für Bernard Bertossa waren die Mani-Pulite-Affäre und andere Ereignisse in Spanien und Frankreich “eine Art Anstoss für den Genfer Appell, der dann dazu beigetragen hat, die Debatte auf politischer Ebene in Gang zu setzen.”

Marc Leutenegger

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