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Und wenn wir die restlichen Schulden abschreiben würden?

Münzen
In der Schweiz glauben viele Menschen, dass wegen ihrer hohen Schulden keine Zukunft haben. © Keystone / Christian Beutler

In der Schweiz sind zwischen 6 und 13% der Bevölkerung ver- oder überschuldet. Eine Situation, die weder den Betroffenen noch den Kantonen und Gemeinden gefällt, die einen grossen Teil der daraus resultierenden sozialen Lasten tragen müssen. Der Bund will jetzt mit einer Gesetzesänderung eingreifen.

Er ist Mitte 40, spanischer Abstammung, lebt allein mit einem Kind im gemeinsamen Sorgerecht. Er ist nicht arbeitslos und die Genfer Gemeinde, für die er arbeitet, bezahlt ihn recht ordentlich.

Aber Alvaro* leidet. Im Alter von zwölf Jahren erlebt er, wie sich seine Eltern scheiden lassen. Er selbst erlebt später eine sehr schwierige Trennung. Er hat sich in den dunklen Ecken der Gesellschaft verirrt und gibt zu, dass er schlechte Entscheidungen getroffen hat, mit dem Ergebnis, dass er sich als Erwachsener verschuldet hat.

Heute hat er 15’000 Franken aktive Schulden im Betreibungsverfahren, zehnmal so viel in Form von Verlustscheinen, einer Art Schuldanerkennung, die 20 Jahre lang gültig ist, wenn Schuldner:innen zahlungsunfähig sind. Das bedeutet, dass jederzeit Gläubiger:innen auftauchen können, wenn es Alvaro wieder besser geht, um die Schulden einzufordern.

Alvaro will nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein und “anderen zur Last fallen”. Er will einfach nur leben und Pläne haben. Aber er sieht wirklich nicht, wie er es schaffen soll. Durch die Inflation wird seine Lage immer schlimmer.

Er hofft deshalb auf eine Gesetzesänderung. Der Bundesrat hat das revidierte Bundesgesetzt über Schuldenbetreibung und Konkurs (SchKG) letztes Jahr in die Vernehmlassung geschickt.

Eine zweite Chance

Die Pläne, die bis spästens 2024 konkretisiert werden sollen, sehen vor, überschuldeten Menschen eine zweite Chance zu geben. Nach dem Vorbild der USA sollen sämtliche noch offenen Schulden getilgt werden können. In Europa haben alle Länder ein solches Verfahren eingeführt, mit Ausnahme einiger Balkanstaaten. Um eine zweite Chance zu erhalten, müssen Schuldner:innen jedoch ihren guten Willen unter Beweis stellen: Innerhalb von vier Jahren müssen sie versuchen, eine Arbeit zu finden (sofern sie nicht bereits eine haben) und so viele Schulden wie möglich begleichen.

Für den Bundesrat gab es mehrere Gründe, das Gesetz zu ändern. Das geltende Schweizer Recht, so die Feststellung, ermöglicht es hoch verschuldeten Privatpersonen nicht, ihre finanzielle Situation dauerhaft zu sanieren. Diese Situation wirkt sich negativ auf ihre Gesundheit aus und stellt eine schwere Belastung für ihre Familie dar, die auch die Zukunft der Kinder beeinflusst.

Die Gläubiger wiederum haben im aktuellen Konkursverfahren kaum eine Chance, vom zukünftigen Einkommen der Schuldner:innen zu profitieren.

Céline Vara
Für Céline Vara, Ständerätin der Grünen und Präsidentin von Schuldenberatung Schweiz, geht die geplante Gesetzesänderung in die richtige Richtung. © Keystone / Alessandro Della Valle

23 von 26 Kantonen stimmen zu 

Ständerätin Céline Vara, Präsidentin des Dachverbandes Schuldenberatung Schweiz, ist überzeugt, dass auch die öffentliche Hand von der Gesetzesänderung profitieren könnte: Kantone oder Gemeinden, die oft die sozialen Folgen solcher Verschuldungen tragen müssen, würden von einem Forderungsverzicht profitieren. Die Betroffenen würden motiviert, eine Arbeit zu finden, und würden so von der Sozialhilfe befreit. Ausserdem würden die Kantone nicht mehr für die Gesundheitskosten aufkommen müssen.

In der Vernehmlassung stimmten 23 von 26 Kantonen dem Entwurf zu. Nur Freiburg gab eine negative Stellungnahme ab, während Obwalden und Appenzell-Innerrhoden nicht auf die Vernehmlassung reagierten.

“Manchmal fallen diese verschuldeten Personen völlig aus dem System, werden marginalisiert und ihre Gesundheit leidet. Die Wirtschaft verliert eine treibende Kraft”, sagt Vara. “Der Bundesrat hat das verstanden und mit diesem neuen Verfahren beschlossen, denjenigen eine Chance zu geben, deren Perspektive nicht weiter als bis zum Ende des Monats reicht.”

Neuchâtel hält den Rekord

In der Schweiz sind laut verschiedenen Umfragen zwischen 6 und 13 % der Bevölkerung ver- oder überschuldet. Mit einer Medianverschuldung von 41’500 Franken, wie Schuldenberatung Schweiz berichtet. Man darf dabei nicht vergessen, dass 720’000 Menschen in prekären Verhältnissen leben und mit dem Existenzminimum auskommen müssen. Für diese Menschen ist eine unvorhergesehene Rechnung von 2000 Franken nicht zu bezahlen. Sie sind daher anfällig dafür, früher oder später in die Verschuldung zu geraten.

“Man sitzt lebenslang im Wirtschaftsgefängnis, während die Höchststrafe für Mord oder schwere Körperverletzung zehn Jahre beträgt”, ärgert sich Vara. “Wirtschaftsdelikte wie Veruntreuung und Betrug oder eine Erpressung werden mit maximal fünf Jahren bestraft. Selbst die lebenslange Freiheitsstrafe ist begrenzt!”

Vara sagte dies anlässlich der Swiss Money Week, einer Veranstaltung, die vom 20. bis 26. März an verschiedenen Orten in der Westschweiz und im Kanton Bern stattfand, um auf die Bedeutung des richtigen Umgangs mit Geld aufmerksam zu machen. Die Ständerätin war in Neuenburg, ihrer Stadt und ihrem Kanton, “wo es sich gut leben lässt, wenn man nicht zu den 10,8 % der Bevölkerung gehört, die verschuldet sind” – ein Rekord in der Schweiz.

Neuenburg hat jedoch die Dinge in die Hand genommen und ein “Gesetz zur Bekämpfung und Verhütung der Überschuldung” verabschiedet, das drei Schwerpunkte umfasst: Prävention, Früherkennung und finanzielle Sanierung. Der Kanton Genf hat nun nachgezogen.

Die Hölle der Verfolgung

Paola Stanic, Juristin und Projektleiterin bei der Association romande et tessinoise des institutions d’action sociale (Westschweizer und Tessiner Verband der Sozialhilfeeinrichtungen), ergänzt, dass es im geltenden Recht durchaus Hindernisse für die Schuldenregulierung gibt. So sei die Schweiz ein liberales Land, das das Recht auf Konsum und die Vertragsfreiheit zwischen selbst ungleichen Akteuren garantiere und nur wenige Kontrollen oder Regulierungen anbiete, sagt sie.

Adrien Busch, Alvaros Betreuer im Centre Social Protestant in Genf, stimmt dem zu: “Es ist entmutigend. Überschuldete Personen werden lebenslang bestraft, während Schulden, die durch den Konkurs einer Aktiengesellschaft (AG) oder einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) entstanden sind, nicht in gleicher Weise behandelt werden.”

Sobald jemand in das Betreibungssystem gerate, beginne er oder sie durch die Hölle zu gehen, stellt er fest. “Die Betreibungen sollen einem das Existenzminimum lassen, aber dazu gehören keine Steuern. Die Person wird also nicht genug Geld haben, um sie zu bezahlen, und ihre Schulden steigen automatisch. Es ist infernalisch…”. Die meisten Schulden seien mit Steuern und Krankenkassenprämien verbunden, sagt Busch.

Alvaro bestätigt das: “Die Betreibungen lassen mir jeden Monat 3300 Franken zum Leben. Früher haben sie mir sogar den 13. Monatslohn weggenommen. Wie soll man danach noch Steuern zahlen, wenn man das gemeinsame Sorgerecht für ein Kind hat und all die anderen Rechnungen bezahlen muss oder grosse, unerwartete Rechnungen wie etwas für der Zahnarzt? Das ist die Schlange, die sich in den Schwanz beisst.”

Editiert von Samuel Jaberg, aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger. 

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