Gibt es in der Schweiz wirklich Scheidungen wegen der Heiratsstrafe?
Verheiratete Mittelstandspaare haben in der Schweiz Nachteile bei Steuern und Rente. Deswegen gibt es aber keine Scheidungen. Am Respekt vor dem heiligen Bund der Ehe liegt das nicht.
Drum kalkuliere, wer sich ewig bindet? In der Schweiz sollte, wer heiraten will, vor der Trauung genau berechnen, welche finanziellen Folgen die Ehe hat. In manchen Kantonen zahlen verheiratete Paare, wenn beide arbeiten und ähnlich gut verdienen, deutlich höhere Steuern als, wenn sie unverheirateten zusammenleben.
Das ist die sogenannte Heiratsstrafe. Der Bundesrat kam 2013 auf rund 80 000 Ehepaare mit «mittleren und höheren Einkommen», die solche Steuernachteile haben. Diese Zahl wurde später nach oben korrigiert. Die letzte Schätzung im Juni 2018 auf Basis der Bundessteuerstatistik von 2013 ergab, dass rund 450’000 Zweiverdienerehepaare von einer Mehrbelastung betroffen sind, die das Bundesgericht als verfassungswidrig erachtet.* Und das ist nicht alles: Denn im Alter ist bei ihnen das Eheversprechen häufig der Grund für eine tiefere Grundrente.
Bis zu 1200 Franken weniger
«Die Einkommen von Ehepartner werden zusammen besteuert. Bei der Berechnung der Steuern werden sie also zusammengezählt», sagt Simon Tellenbach, Vorsorgespezialist beim Finanzdienstleister VZ VermögensZentrum. Dies störe vor allem «besserverdienende Ehepaare», denn bei ihnen wird ein grösserer Einkommensanteil zum höheren Satz versteuert.
Ausserdem wird ihre AHV-Rente begrenzt. Tellenbach erklärt: «Sie zahlen nach der Heirat zwar dieselben AHV-Beiträge ein und die Berechnung der Rentenhöhe erfolgt grundsätzlich gleich. Doch Verheiratete bekommen nicht die doppelte Einzelrente.»
Sie erhalten höchstens anderthalbmal die Maximalrente von Alleinstehenden: 3585 Franken monatlich. Man spricht vom Plafonds. Ein einst gutverdienendes Paar kommt ohne Trauschein aktuell hingegen auf zwei Mal 2390 Franken aus der AHV, also auf insgesamt 4780 Franken.
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Da scheint es naheliegend, dass das eine oder andere Paar mit Blick auf die Finanzen mit dem Gedanken an eine Scheidung spielt. Ist den Schweizern das Portemonnaie wirklich näher als die Liebe?
Auf Familienrecht spezialisierte Anwaltskanzleien winken ab. «Aus unserer Sicht ist das ein Mythos», sagt stellvertretend Stefanie Althaus, Anwältin und Partnerin bei «4H AG Family Law Experts». Bei den «gut bis sehr gut gestellten» Mandant:innen sei die AHV-Rente, in der Schweiz spricht man auch von der ersten von drei Säulen der Altersvorsorge, «von untergeordneter Bedeutung.» Sie haben ausserdem eine Pensionskasse (2. Säule) und Ersparnisse.
Finanzielle Überlegungen würden bei Scheidungen immer eine Rolle spielen, insbesondere kurz vor der Pensionierung. «Es ist aber wohl eher so, dass Existenzängste dazu führen, dass man sich nicht scheiden lässt und in einer Beziehung ausharrt», führt Althaus aus. Eine Verbesserung der finanziellen Situation beider Partner:innen durch eine Scheidung habe die Kanzlei noch nie festgestellt.
Das Alter, in dem Ehen zerbrechen
45 bis 49 ist das Alter, in dem sich in der Schweiz am meisten Menschen scheiden lassen. Mit zunehmendem Alter nimmt die Zahl ab: Von 2015 bis 2020 gab es zwar um die 50’000 Personen in der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen, die sich scheiden liessen, doch sogar unter den 30- bis 34-Jährigen waren es Zehntausende mehr.
Sind ältere Ehepaare einfach zu romantisch, um sich aus finanziellen Erwägungen scheiden zu lassen? Eher nicht. Denn es gibt durchaus auch gesetztliche Hürden. «Damit die zwei Renten entplafoniert werden können, muss der gemeinsame Haushalt richterlich aufgehoben worden sein», heisst es beim Bundesamt für Sozialversicherungen BSV.
Geschiedene Ehepaare erhalten die höhere Rente also erst, wenn sie ihren gemeinsamen Haushalt auflösen. Mit den Kosten von getrennten Haushalten aber ist die Ersparnis bei Rente und Steuern dahin. Ganz zu schweigen davon, was es menschlich bedeutet, getrennt zu leben, ohne es zu wollen.
swissinfo.ch konnte kein Ehepaar ausfindig machen, das aus finanziellen Überlegungen die Scheidung eingereicht hat. Hingegen gibt es solche, die aus pragmatischen Gründen kurz vor der Rente geheiratet haben. Denn eine Heirat bietet im Alter auch Vorteile: Wenn eine Person stirbt, hat die hinterbliebene Ehegatt:in ein Anrecht auf eine Hinterbliebenenrente aus der AHV.
Auch aus der Pensionskasse haben «überlebende Ehegatten», wie sie das Gesetz nennt, fast immer Anrecht auf eine zusätzliche Rente. Bei unverheirateten Paaren ist das oft nicht der Fall. Zudem sind hinterbliebene Partner:innen ohne Trauschein beim Erben steuerlich benachteiligt – selbst, wenn sie im Testament bedacht sind. Alles in allem ist die Ehe in der Schweiz eine Absicherung.
Der Trauschein als Armutsrisiko
Ausser in einer Situation. Wenn einer von beiden auf Langzeitpflege angewiesen ist, wird der Trauschein zum Armutsrisiko. Die feministische Ökonomin Mascha Madörin spricht von einer «gesundheitlichen Katastrophe», die in der Schweiz «bis zur oberen Mittelklasse auch eine finanzielle ist». Madörin sagt: «Eigentlich sollten sich Frauen vor der Rente scheiden lassen.»
«Wenn mein Partner auf Langzeitpflege angewiesen ist, trage ich die finanzielle Belastung. Ich hafte mit allem – dem gesamten Vermögen.» Anders nach einer Scheidung. In diesem Fall werden Pensionskasse, gemeinsames Vermögen und private Vorsorge halbiert.
Nur die Hälfte des Partners fliesst in die Gesundheitskosten. Ein Genderthema ist das, weil es häufiger Frauen sind, für die die Kosten für Pflege und Betreuung ihres Partners zum Armutsrisiko werden: «Männer sind im Schnitt älter als ihre Ehepartnerinnen.»
Gemäss Madörins Berechnungen werden gegenwärtig 2,3% des Schweizer Bruttoinlandprodukts für die Langzeitpflege aufgewendet – ein normaler Anteil in Westeuropa. Doch in den Niederlanden und Dänemark werden fast die ganzen Kosten für Langzeitpflege von der öffentlichen Hand getragen.
In der Schweiz zahlen die privaten Betroffenen anteilmässig am meisten. «Die Schweiz ist im westeuropäischen Vergleich aussergewöhnlich», sagt Madörin. Angehörige müssen mitfinanzieren oder leisten die Arbeit gleich selbst – als unbezahlte Care-Arbeit.
Eine schwere Krankheit ist ein Schicksalsschlag, den man – anders als Steuervor- oder -Steuernachteile – nicht kalkulieren kann. Madörin kennt niemanden, der sich auf die Rente hin hat scheiden lassen. Aber dafür Leute, die nach langer Parterschaft doch noch geheiratet haben. «Als eine Art Treueschwur bis zum Lebensende.»
In den Zahlen spiegeln sich solche Einzelfälle nicht. Wie die Scheidungsstatistik zeigt auch die Heiratsstatistik keine auffällige Zunahme jenseits der 60. Am häufigsten heiraten in der Schweiz die 30- bis 34-Jährigen.
*Dieser Artikel wurde am 9. Mai publiziert, am 17. Mai wurde er um die neusten Schätzungen der Betroffenen der Heiratsstrafe ergänzt.
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