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Zum Tod von Nina Weil, Überlebende des Holocaust

Nina Weil
Gamaraal Foundation

Sie hat nicht nur ihre leidvolle Geschichte erzählt, sondern vor allem auch Herzen berührt: Die Schweiz verliert mit Nina Weil eine der letzten Überlebenden der Shoah. Ein Nachruf.

Kürzlich musste Nina Weil miterleben, wie Menschen auch in Europa einen Massenmord an Jüdinnen und Juden bejubelten oder dazu schwiegen. Nun ist die Holocaust-Überlebende gestorben.

Für sie muss diese Entwicklung ein besonderer Schock gewesen sein. Sie hatte seit vielen Jahren vor Tausenden von Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten über die Schrecken des Nationalsozialismus berichtet. Ihre Lebensgeschichte ist in der Dauerausstellung des Landesmuseums verewigt.

Just am 85. Jahrestag der Reichspogromnacht, am 9. November, ist Nina Weil im Kanton Zürich gestorben.

Lange schwieg sie

Über das unvorstellbare Leid, das sie erleben musste, hat Nina Weil lange geschwiegen. Erst mit 30 Jahren konnte sie ihrem Mann zum ersten Mal erzählen, wie die deutschen Panzer nach Prag rollten. Dort lebte sie damals; geboren wurde sie 1932 in Klattau im heutigen Tschechien.

Eine Nummer auf dem Arm

Sie erzählte, wie die Ausgrenzung der Juden ihren Lauf nahm und wie sie zusammen mit ihrer Mutter 1942 ins Konzentrationslager deportiert wurde. Nina Weil war zwölf Jahre alt, als ihr in Auschwitz die Nummer 71 978 auf den Arm tätowiert wurde.

Nina Weil, am Arm tätowiert
Gamaraal Foundation

In einem Interview berichtete sie von diesem traumatischen Erlebnis: «Ich habe sehr geweint. Nicht wegen der Schmerzen. Weil ich nun keinen Namen mehr hatte, nur noch eine Nummer. Meine Mutter versprach mir, dass ich, sobald wir frei sind, ein breites Armband bekomme, damit niemand die Nummer mehr sehen kann. Auch Tanzunterricht würde ich dann bekommen. Ich habe weder ein Armband noch Tanzstunden bekommen. Die Nummer trage ich bis heute.»

Erzählen, um zu erinnern

Ihre Lebensgeschichte hat Nina Weil in den letzten Jahren immer und immer wieder erzählt. Nach dem jahrelangen Schweigen kam die Überzeugung, Zeugnis ablegen zu müssen. Vor Schülerinnen und Schülern, vor Lehrpersonen und Studierenden. Sie hat nicht nur ihre Geschichte erzählt, sondern vor allem Herzen berührt.

Sie berichtete, wie ihre Mutter in Auschwitz an Erschöpfung und Entkräftung starb. Wie sie in diesem Moment realisierte, dass sie nun für immer auf sich allein gestellt war. Sie versuchte zu erklären, welche spezielle Farbe der Rauch aus den Krematorien hatte.

Sie beschrieb zutiefst empört die Grausamkeit der Wachleute, die ihre Hunde auf die Menschen hetzten, auf sie schossen. Sie beschrieb, wie sie gedemütigt und entrechtet wurde. Und sie erzählte eindrücklich, wie sie selbst eine Selektion durch den KZ-Arzt Josef Mengele überstanden und das Konzentrationslager Auschwitz sowie den Todesmarsch überlebt hatte.

«Und so sind wir marschiert und marschiert», schilderte Nina Weil die Tage vor der Befreiung. «Es war Januar. Essen haben wir nicht bekommen. Wer Glück hatte, fand etwas Gras am Wegrand. Schnee war unser Wasser. Wir kamen zu einem grossen Bauernbetrieb und durften dort im Stall schlafen.»

Kein Platz dem Judenhass

Nina Weil sagte jeweils, Antisemitismus und jede Form von Hass dürften keinen Platz haben. Hass und Gleichgültigkeit besiegelten das Schicksal von Millionen Juden in Europa. Ein bis heute kaum vorstellbares Menschheitsverbrechen.

Nina Weil war am Ende des Krieges dreizehn Jahre alt. Im ungefähr gleichen Alter wie viele der Kinder, denen sie später in der Schweiz und auf der ganzen Welt ihre Geschichte erzählen sollte. Sie berichtete diesen auch, wie sie anschliessend in einem Waisenhaus aufgewachsen war, wie sie im Internat ihren Mann kennengelernt und nach einer Ausbildung als Laborantin an der Prager Poliklinik gearbeitet hatte.

Als die Russen 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten, verbrachten Nina Weil und ihr Mann an diesem Tag zufälligerweise ein paar Ferientage bei Freunden in Uster. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings erhielten sie Asyl in der Schweiz, wo sie fortan als Laborantin am Universitätsspital Zürich tätig war.

Nina Weil liebte ihre Arbeit. Der Besuch der Schulklassen und Bildungsinstitutionen war und blieb für sie aber die eigentliche Lebensaufgabe und Herzensangelegenheit. Jeder Auftritt war für sie sehr anstrengend, aber sie betrachtete es als Verpflichtung, vom Holocaust zu erzählen, damit so etwas nie wieder geschieht. Nie wieder.

In einem Interview sagte sie vor einigen Jahren: «Die jungen Leute sollten die Geschichte Europas kennen, sollten wissen, was damals passiert ist.» Wir hätten die Pflicht, die Lehren aus dem Holocaust zu ziehen und sie von Generation zu Generation weiterzugeben. Das ist es, was Nina Weil immer sagte. Man darf nie vergessen, nie gleichgültig sein. Niemals.

Nina Weil hat mir bei unserem letzten Gespräch nachdenklich gesagt: «Ich bin eine der letzten Überlebenden des Holocaust.» In den Schulklassen von heute werden ihre Person und ihre Geschichte fortan fehlen.

Dieser Text erschien zuerst in der NZZ. Die Autorin ist Präsidentin und Gründerin der Stiftung GamaraalExterner Link

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