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Die Berufswelt hat kein Geschlecht

Vater und Tochter: Antonio Ruggiero mit Tochter Lucia auf einer Draisine im HB Zürich. Keystone

Am Donnerstag begleiteten mindestens 20'000 Schülerinnen ihren Vater oder ihre Mutter auf deren Arbeitsplatz, um dort Berufswelt zu "schnuppern".

Der zum fünften Mal durchgeführte nationale Tochtertag sollte mit Vorurteilen aufräumen und jungen Frauen das Spektrum der möglichen Berufe erweitern.

“Der Arbeitsmarkt ist immer noch nicht durchmischt”, konstatiert Anita Balz, die den Tochtertag für die Romandie organisiert. “Weiterhin entscheiden sich drei von vier Mädchen für Berufe im Erziehungs- oder Gesundheitswesen oder im Verkauf, also für Berufe, die es erlauben, das Familien- mit dem Berufsleben in Einklang zu bringen.”

In der Schweiz arbeiten drei Viertel aller Mütter, und dennoch bleiben die Vorurteile weiterhin bestehen. Man müsse deshalb neue Strategien entwickeln, so Balz, um die wirtschaftliche und berufliche Gleichberechtigung zu fördern.

Gezielte Politik

Der Tochtertag wurde 2001 von der Schweizerischen Konferenz der Gleichstellungs-Beauftragten eingeführt. Er gliedert sich ein in die gezielte Politik, die Bund und Kantone seit der Inkraftsetzung des Gleichstellungs-Gesetzes im Jahr 1996 verfolgen.

Nahmen 2002 erst rund 12’000 Mädchen am Tochtertag teil, waren es 2004 bereits 20’000. Anita Balz geht für dieses Jahr von einer weiteren Zunahme aus. Für jene Schülerinnen und Schüler, die an diesem Tag in der Schule bleiben, bieten die Lehrer Informationen an über Gleichberechtigung bei den Chancen und über die Möglichkeiten im Berufs- und Familienleben.

Die Unterstützung der Schulen für den Tochtertag ist unumgänglich. 1400 Schulklassen, davon 300 in der Westschweiz, haben bei den kantonalen Gleichstellungs-Büros um Dokumentation angefragt.

Eine Frage des Willens

Doch – dem Föderalismus sei Dank – nimmt auch dieser Tag unterschiedliche Formen an. Einige Kantone möchten den Tochtertag schon ab dem 5. Schuljahr, andere ab dem 7. oder erst ab dem 8. Schuljahr organisieren. Wiederum andere, wie der Kanton Waadt, laden auch die Knaben zum Mitmachen ein und legen somit ein Schwergewicht auf die Berufswahl im Allgemeinen.

Weil die Knaben ausgeschlossen blieben, hat letztes Jahr das Wallis den Tochtertag boykottiert. Dieses Jahr habe bloss Basel-Stadt auf die Durchführung verzichtet, sagt Anita Balz.

Dasselbe gilt auch für die Unternehmen. Dieses Jahr machen 7500 Unternehmungen mit, darunter auch zahlreiche der grossen, wie die SBB, Migros oder Swisscom.

“Ein Mitmachen ergibt sich von selbst, wenn es im Unternehmen eine Person gibt, die für Gleichstellungs-Fragen verantwortlich ist”, sagt Nadia Lamamra vom Schweizerischen Institut für Berufspädagogik. “Diese hat sich ja sicher bereits Gedanken darüber gemacht.”

Spontan organisiert – wie swissinfo

Einige Unternehmungen organisieren solche Tage sogar spontan. Zum Beispiel swissinfo. “Wir laden auch Jungen ein, doch dieses Jahr kommen fünf Mädchen”, sagt Therese Roth vom Personalbüro.

Auf dem Programm stehen ein Rundgang durchs Unternehmen, die Abgabe von Dokumentation und von Give-aways sowie ein Gratis-Frühstück mit Vater oder Mutter in der Kantine.

Das Durchführen eines Töchtertags sei deshalb eine Frage des Wollens, so Nadia Lamamra. Andererseits hänge es von der sozialen Schicht ab, welche Berufe jeweils als attraktiv empfunden werden.

Es sei einfacher, seine Tochter von einem idealen Beruf zu überzeugen, wenn man selber zum oberen Kader gehöre als wenn man als Tellerwäscher arbeite.

Es braucht Zeit, und es fehlen Vorbilder

Trotz des Kraftaufwands halten sich zahlreiche Klischee-Vorstellungen hartnäckig. Die Berufswahl habe viel mit bestehenden Vorbildern zu tun, sagt Anne Dafflon Novelle, Assistentin der Abteilung für Psychologie an der Universität Genf.

“Jugendlichen Mädchen fällt es schwerer, einen Beruf in einem Umfeld zu suchen, wenn sie dort keine weiblichen Bekannten haben.” Dasselbe gelte auch für Jungen. Und besonders gelte es für den Zeitpunkt, in dem sich die Jugendlichen ihre eigene geschlechtliche Identität errichten.

“Den Mädchen fehlt es ganz einfach an weiblichen Vorbildern, und zwar in einer breitgefächerten Palette verschiedener Berufe, aber besonders in technischen Bereichen”, sagt die Psychologin gegenüber swissinfo.

Was tun? Anne Dafflon Novelle rät, vor den Kindern schon ab jungen Jahren über gleiche Chancen und Rechte von Jungen und Mädchen zu sprechen. Doch in der Deutschschweiz beispielsweise figuriere dies in den Kindergärten und –krippen nicht im Programm.

swissinfo, Isabelle Eichenberger
(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)

Die Schweizerische Konferenz der Gleichstellungs-Beauftragten hat 2001 den Tochtertag lanciert.
Der 10. November soll als Motivations-Tag den Schülerinnen von der 5. bis zu 8. Klasse helfen, die breite Palette an möglichen Berufen kennen zu lernen.
2002 machten 12’000 Schülerinnen mit, 2004 waren es bereits mehr als 20’000.
Rund 7500 Unternehmen haben ihre Partizipation zugesagt.
1400 Schulen, darunter 300 westschweizerische, haben auch Dokumentations-Material bestellt, um den Jungen darzulegen, wie das Familien- mit dem Berufsleben in Einklang zu bringen ist.

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