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Menschenwürde versus Forschungsfreiheit

Ruth Baumann-Hölzle: Menschenwürde und Menschenrechte sind ihr ein Anliegen. R. Baumann-Hölzle

Von der Stammzellentechnik verspricht man sich Therapien gegen unheilbare Krankheiten. Reicht diese Motivation aus, um aufkommendes Leben zu zerstören?

Die Theologin Ruth Baumann-Hölzle lehnt diese Technologie ab, weil dabei der Embryo zweckentfremdet werde.

Die Medizin setzt grosse Hoffnungen auf die Forschung mit embryonalen Stammzellen. Es handelt sich um Zellen mit einem Entwicklungspotential, die nach Meinung der Forscher dereinst für die Erneuerung beschädigten Gewebes eingesetzt werden können, beispielsweise von Herzgewebe nach einem Herzinfarkt.

Ein Embryo stellt jedoch den Anfang menschlichen Lebens dar. Und die Tatsache, dass der Embryo im Frühstadium für die Zwecke der Forschung benutzt wird, gibt zu heftigen Diskussionen Anlass. Ist es richtig, angesichts eines Zellklumpens bereits von Menschenwürde zu sprechen?

Die Moraltheologin Ruth Baumann-Hölzle, eine Expertin in ethischen Fragen der Medizin, ist eine entschiedene Gegnerin des Stammzellenforschungs-Gesetzes, über das Ende November in der Schweiz abgestimmt wird.

Baumann-Hölzle ist überzeugt, dass die Gesellschaft nur dann Fortschritte machen kann, wenn sie dem menschlichen Leben, auch dem ungeborenen, Autonomie und Menschenrechte einräumt.

swissinfo: Sie stehen der Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen äusserst kritisch gegenüber. Warum?

Ruth Baumann-Hölzle: Weil wir hier zivilisatorisch einen Rückschritt vollziehen. Wir haben uns stets darum bemüht und bekanntlich lange gebraucht, um den Menschen Respekt und Würde entgegenzubringen, damit sie nicht materialisiert und instrumentalisiert werden.

Durch die Stammzellenforschung verkommt der Begriff der Menschenwürde indes zu einer rein virtuellen Angelegenheit. Wir benutzen menschliches Leben für fremde Interessen. Diese Haltung entspricht einer absoluten Nutzen-Kultur, in der wir heutzutage leben.

Die Embryonenforschung ist die Schwelle für eine neue Handlungsmacht des Menschen. Zum einen entsteht die Möglichkeit des Klonens, der Eingriffe in die Keimbahn, andererseits können wir in absehbarer Zeit diese embryonalen Stammzellen zurückentwickeln in Keimzellen, in Eizellen und Spermien. Das bedeutet: Wir können neu beliebig Embryonen herstellen.

Es stellt sich doch die Frage: Sind wir dieser Handlungsmacht wirklich gewachsen und soll der Mensch nun diesen letzten Bereich der Natur auch noch seinem Nutzen unterwerfen? Was wir mit dieser Ausbeutungs-Kultur erreicht haben, wissen wir ja. Man denke nur an die Umwelt.

swissinfo: Mit der Stammzellenforschung verbindet sich die Hoffnung, unheilbare Krankheiten in den Griff zu bekommen.

R.B.-.H: Hinter dieser Hoffnung verbirgt sich die Illusion, dass wir eines Tages das Alter und auch den Tod besiegen könnten. Es ist die Illusion der absoluten Kontrolle, verbunden mit dem Wunsch nach Allmacht.

Und hier müssen wir meiner Meinung nach Einspruch erheben: Es wird uns nicht gelingen, das Alter und den Tod abzuschaffen. Es wird immer davon gesprochen, dass wir mit den embryonalen Stammzellen auch Demenz-Erkrankungen wie Alzheimer besiegen könnten. Doch es sind immer nur Versprechungen.

Die gleichen Versprechungen wurden vielen kranken Menschen mit der somatischen Gen-Therapie gemacht. Doch von diesen konnten kaum welche eingehalten werden. Insofern finde ich es auch den Kranken gegenüber nicht fair, dass sie jetzt in diesem Abstimmungskampf benutzt werden, um gleichsam mit ihrem Leiden Propaganda zu machen.

swissinfo: Viele wissenschaftliche Entdeckungen wurden quasi per Zufall gemacht. Riskieren wir nicht, durch eine Einschränkung der Forschungsfreiheit, uns selber den Weg für den wissenschaftlichen Fortschritt zu verstellen?

R.B.-.H: Es stellt sich die Frage, ob man Forschungsfreiheit über die Menschenwürde stellen soll. Auf dem Hintergrund der Erfahrungen im 2. Weltkrieg hat man eigentlich eingesehen, dass wir die Forschungsfreiheit nicht über die Menschenwürde stellen können.

Doch jetzt schlagen wir genau den umgekehrten Weg ein. Es wirkt schon etwas zynisch, wenn sowohl im Fortpflanzungsmedizin-Gesetz wie jetzt auch im Stammzellenforschungs-Gesetz gleich zu Beginn der Begriff Menschenwürde genannt wird, diese Würde dann aber nicht respektiert wird. Denn Menschenwürde bezeichnet den Umstand, dass man menschliches Leben nicht instrumentalisieren darf.

swissinfo: Unsere Gesellschaft akzeptiert die künstliche Befruchtung, bei der meist überzählige Embryonen entstehen, die dann absterben. Es erscheint doch sinnvoll, diese Embryonen eher für die Forschung einzusetzen als sie sterben zu lassen?

R.B.-.H: Ausserhalb des Körpers einer Frau sind diese Embryonen zum Sterben verurteilt. Aber mit diesem Argument kann man doch nicht die Forschung rechtfertigen! Wenn wir sagen, dass menschliches Leben, das ohnehin stirbt, zur Forschung freigegeben werden soll und das verallgemeinern, was bedeutet das für sterbende Menschen?

Diese Haltung unterläuft letztendlich den Schutz besonders schwacher Menschen am Ende ihres Lebens. Auch dort ringen wir darum, dass Tod geweihte Menschen nicht für Fremd-Interessen instrumentalisiert werden, nicht plötzlich ihre Organe ausgeschlachtet werden, ohne dass sie eingewilligt haben.

Die Menschenwürde und die Menschenrechte sind mit unendlich viel Leid errungen worden. Daher verstehe ich nicht, wie wir es verantworten können, die Menschenwürde auf diese Art und Weise zu unterlaufen.

swissinfo: Auch eine Frau, die eine Schwangerschaft unterbricht, tötet einen Embryo. Warum sollen Forscher, die zum Wohle der Gesellschaft arbeiten, dieses Recht nicht haben?

Man kann diese Konflikte nicht vergleichen. Im einen Fall geht es darum, dass die Frau auf dem Hintergrund ihres Autonomie-Anspruchs nicht bereit ist, ihren Körper für eine Schwangerschaft zur Verfügung zu stellen. Das ist ein direkter Autonomie-Konflikt zwischen dem werdenden Leben und dem Lebensentwurf der Frau.

Dasselbe gilt für Transplantationen. Wir könnten sehr vielen Menschen zum Überleben verhelfen, würden wir sie zwingen, Nieren oder andere Organe zu spenden. Die körperliche Integrität des potentiellen Spenders und seine Selbstbestimmung geniessen jedoch Vorrang.

Anders verhält es sich in Bezug auf die Forschung: Der Embryo befindet sich ja nicht im Körper des Forschers, er hat auch keine direkte Beziehung. Es kann so keine ethische Konfliktlage zwischen dem Forscher und dem Embryo entstehen.

swissinfo: Das neue Gesetz ist äusserst restriktiv und reguliert einen Forschungsbereich. Ist dies nicht besser als ein unreglementierter Zustand, der beispielsweise den Import erlaubt?

R.B.-.H: Das Importieren von embryonalen Stammzellen kann man nicht einfach als Faktum akzeptieren. Die Importbewilligung für die embryonalen Stammzell-Linien ist für mich nicht mit der Verfassung vereinbar. Parlament und Bevölkerung wurden massiv übergangen.

Wir sollten uns jetzt an einen Tisch setzen und uns darüber klar werden, was wir eigentlich wollen. Wollen wir menschliches Leben wirklich verzwecklichen? Es geht nicht allein um einige überzählige Embryonen.

Nein, es wird wirklich qualitativ ein neuer Schritt vollzogen. Mit welchen Argumenten können wir künftig gegen therapeutisches Klonen beim frühen Embryo sein, mit welchen Argumenten gegen Eingriffe ins Erbgut, wenn wir heute die embryonale Stammzellenforschung gut heissen?

Es stellt sich die Frage, welche Vision von ethischer Entscheidungsfindung wir in der Schweiz haben. Wenn wir Nein zur embryonalen Stammzellenforschung sagen, könnte sich unser Land weltweit als Verteidiger von Menschenwürde und Menschenrechte einen Namen machen.

Interview: Doris Lucini
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Der US-amerikanische Forscher James Thomson schaffte es 1998 erstmals, im Labor Stammzellen zu isolieren und zu kultivieren.

Im Jahr 2001 erhielt eine Forschergruppe an der Universität Genf erstmals eine Bewilligung für den Import menschlicher embryonaler Stammzellen aus den USA.

Am 28.November 2004 wird in der Schweiz über ein Bundesgesetz abgestimmt, das die Forschung an überzähligen Embryonen und embryonalen Stammzellen regelt.

Ruth Baumann-Hölzle hat sich bereits während ihres Theologie-Studiums intensiv mit ethischen Fragen auseinander gesetzt.

Seit 1999 leitet Baumann-Hölzle “Dialog Ethik”, ein interdisziplinäres Institut für Ethik im Gesundheitswesen in Zürich.

Die Theologin lehnt die embryonale Stammzellenforschung ab. Ihrer Meinung nach besitzt auch ein Embryo eine Würde. Dieses dürfe nicht für Forschungszwecke missbraucht werden.

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