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Mit Schweizer Pass in Hitlers Todeslagern

Am Mittwoch ist Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Lesen Sie anlässlich des Gedanktags über die rund 400 Schweizerinnen und Schweizer, die in Konzentrationslagern der Nazis inhaftiert waren.

Es ist der 10. Februar 1944, als die junge Mutter Marcelle Giudici-Foks mit der Eisenbahn ins Konzentrationslager Auschwitz transportiert wird. Die Gestapo im besetzten Frankreich hat sie mit über tausend anderen Jüdinnen und Juden in Viehwaggons zusammengepfercht. Marcelle, eine lebensfrohe Tanzlehrerin aus Royan an der Atlantikküste, ist mit dem Auslandschweizer Jean Giudici verheiratet und dadurch Schweizerin geworden. Jeans Eltern entflohen bitterer Armut im Tessin und versuchen ihr Glück als Waffelbäcker in Frankreich.

Als es für die Juden in Frankreich ab 1942 wegen einsetzender Massendeportationen gefährlich wird, erwägen Marcelle und Jean die Ausreise in die sichere Schweiz. Doch weil Marcelle hochschwanger ist, sehen sie im letzten Moment davon ab, sich dem rettenden Zugskonvoi der Schweizer Behörden anzuschliessen. Ende Januar 1943 holt der Bund endlich die in Frankreich lebenden Schweizer Juden zurück. Zuvor zögerte Bern lange, obwohl der Leiter des Schweizer Konsulats in Paris, René Naville, mehrfach warnte, dass Landsleute bedroht seien. Die Repatriierung kommt für Marcelle Giudici zu spät. Sie stirbt in Auschwitz.

Frau am Strand
Marcelle Giudici-Foks an einem Strand in Frankreich. NZZ Libro

“Unseres Interesses würdig”

Auch der Auslandschweizer René Pilloud wird in einem KZ interniert. Er ist in Freiburg geboren und mit seinen Eltern ins französische Bellegarde nahe der Schweizer Grenze ausgewandert. Der Vater arbeitet in der Fabrik, René absolviert eine Lehre als Werkzeugmacher. Im Februar 1944, auf dem Weg an einen Sportwettkampf, gerät der erst 17-Jährige als Unbeteiligter in einen Einsatz der Wehrmacht gegen die französische Résistance. Er wird misshandelt und auf Umwegen ins KZ Mauthausen gebracht. Die Schweizer Behörden bemühen sich um seine Freilassung. Er sei “unseres besonderen Interesses würdig”, heisst es in den Akten.

Junger Mann auf historischer Fotoaufnahme
Claude Richard Loever wurde 1944 in Frankreich verhaftet, weil er in der Résistance mitmachte. Die Besatzungsbehörden deportierten den 18-Jährigen zunächst ins KZ Mittelbau-Dora. 1945 starb er bei der Bombardierung des KZ. Thomas Meier

Einmal steht ein Gefangenenaustausch zur Debatte, doch die Schweiz sieht davon ab. Sie will nicht unschuldige Schweizer gegen rechtskräftig verurteilte deutsche Straftäter austauschen. Die hehren staatsrechtlichen Prinzipien verlängern Pillouds Martyrium. Anfang 1945 wird er ins Krematorium des Lagers abkommandiert, wo er täglich Hunderte Leichen verbrennen muss. Erst kurz vor Kriegsende kann ihn das Rote Kreuz in die Schweiz bringen. Er ist abgemagert, traumatisiert, tuberkulosekrank. Die Schweiz bezahlt ihm 35’000 Franken Schadenersatz als Nazi-Opfer. 1985 stirbt er in Genf.

Aus Nummern werden Menschen

René Pilloud und Marcelle Giudici: zwei Namen, zwei schlimme Geschichten. Im Buch der Journalisten Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid sind sie detailliert nachgezeichnet. Auch andere Schicksale werden rekonstruiert. Vier Jahre lang recherchierten die Autoren in Archiven und Datenbanken, sorgfältig, aufwendig, auch mit Nachkommen sprachen sie. Als Resultat liegt erstmals eine belegte Opferliste vor. Demnach litten 391 Frauen und Männer mit Schweizer Staatsbürgerschaft in einem Nazi-KZ, 201 von ihnen starben dort. Dazu kommen 328 Inhaftierte, die in der Schweiz geboren wurden, aber nie das Bürgerrecht besassen. 255 von ihnen überlebten das KZ nicht. Alle Betroffenen wurden in Deutschland oder in besetzten Gebieten verhaftet und anschliessend deportiert. Am häufigsten geschah es in Frankreich, wo schon damals die meisten Auslandschweizer lebten.

Ein Paar auf einer historischen Foto-Aufnahme
Mina Epstein, geboren und aufgewachsen in Zürich, ermordet in Auschwitz, mit ihrem Ehemann im belgischen Antwerpen. Als die Jüdin in der Schweiz Zuflucht suchte, wiesen Grenzwächter sie ab. Grund: Auf dem Papier war sie keine Schweizerin. NZZ Libro

Ein Teil der Schweizer KZ-Opfer war jüdisch, auch Widerstandskämpfer und Randständige gehörten zu den Verfolgten. Die Autoren listen im Buch sämtliche 391 als “Memorial” auf, von Abegg, Frieda, bis Zumbach, Maurice. Wo vorhanden, geben sie den Opfern mit Fotos ein Gesicht. “In den Konzentrationslagern waren sie Nummern, im Schweizer Bundesarchiv sind sie Entschädigungsfälle”, schreiben die Verfasser, “in diesem Buch sollen sie wieder Menschen werden.”

Frau in KZ-Kleidung
Die Zürcher Coiffeuse Nelly Hug wurde 1942 in Berlin gemeinsam mit ihrem Geliebten von der Gestapo verhaftet. Die Torturen im KZ Ravensbrück – das Foto zeigt sie in gebügelten Häftlingskleidern – überlebte sie. / Sysadmin

Mutlose Behörden

Dass die Schweizer KZ-Häftlinge erst nach 75 Jahren so richtig ins hiesige Bewusstsein rücken, ist bemerkenswert genug. Obwohl Überlebende wie René Pilloud nach dem Krieg öffentlich von ihren Erfahrungen erzählten und das Parlament Entschädigungen guthiess, kam in der Schweiz kaum Interesse auf. In wissenschaftlichen Standardwerken fehlen diese Biografien. Mit der Beschreibung der Schicksale leisten die Journalisten aber mehr als eine Trauerarbeit, der sich alle wohlfeil anschliessen können. Sie stellen auch die unbequeme Frage nach der Rolle der offiziellen Schweiz. Ihr Fazit: “Die Schweiz hätte Dutzende Leben retten können, wenn sie sich mutiger und mit mehr Nachdruck eingesetzt hätte.”

Natürlich sei es “immer einfacher”, eine solche Einschätzung Jahrzehnte später abzugeben, sagt Mitautor Balz Spörri im Gespräch mit der “Schweizer Revue”. Um die Vorgehensweisen aus der Zeit heraus zu beurteilen, gelte es den Kenntnisstand und den Spielraum der damaligen Akteure über verschiedene Phasen hinweg zu berücksichtigen. Im Buch wird ausführlich dargestellt, wie Politik und Medien in der Schweiz auf die Entwicklung der Konzentrationslager durch das NS-Regime reagierten. Obwohl es Hinweise gab, wurden die KZ hierzulande lange nicht als Tötungsanstalten wahrgenommen.

Bürger zweiter Klasse

Noch 1942 lieferte der Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, einen verharmlosenden Bericht über seinen Besuch im KZ Sachsenhausen ab. Der Bundesrat glaubte ihm bereitwillig. Die Buchautoren fanden keinen Hinweis darauf, “dass sich der Gesamtbundesrat vor 1944 mit dem Thema Konzentrationslager oder Schweizer KZ-Häftlinge beschäftigt hätte”. Es waren furchtlose Diplomaten wie der Schweizer Gesandte in Berlin, Paul Dinichert, die einzelne Freilassungen verhafteter Schweizer erreichten. Nach der Besetzung Frankreichs durch Deutschland mahnte Bern jedoch zur Vorsicht. Besonders Dinicherts Nachfolger, Hans Frölicher, befleissigte sich der Zurückhaltung. Reize die Schweiz Hitler, könnte dieser den Einmarsch ins neutrale Land befehlen, fürchtete er. Nur: Frölicher galt in der Schweiz als Opportunist und Nazi-Freund.

Es gab noch einen weiteren Grund, warum Schweizer Behörden keineswegs alles daran setzten, bedrohte Landsleute im Ausland zu schützen. Einige wollte man gar nicht unbedingt zurückhaben. Weil ihre Unterbringung die Staatskasse belastet hätte: Kriminelle, sogenannte Asoziale, Behinderte. Oder weil sie auch in der Schweiz verfemt waren: Kommunisten, Sinti, Homosexuelle, gesellschaftliche Aussenseiter. “In den Akten finden sich zahlreiche Stellen, die das belegen”, sagt Balz Spörri. So liess der Chef der Abteilung für Auswärtiges in Bern, Pierre Bonna, die Diplomaten in Berlin wissen: “Die Gesandtschaft darf nicht zum Nachteil aller übrigen schutzwürdigen Schweizer ihren Kredit aufs Spiel setzen zugunsten von Elementen, die durch eigenes Verschulden oder durch unschweizerisches, herausforderndes Verhalten selbst Anlass zu den ihnen erwachsenden Schwierigkeiten geben.”

Junge Frau auf Bahnsteig
Anne-Françoise Perret-Gentil-dit-Maillard, Buchbinderin aus Neuchâtel, schloss sich in Paris dem Widerstand an. Sie wurde ins KZ deportiert, konnte aber flüchten. Die Schweiz verwehrte ihr eine Entschädigung als Nazi-Opfer. NZZ Libro

“Ein solches Weibsbild”

Diese Haltung wurde Anna Böhringer Bürgi aus Basel zum Verhängnis. Die Behörden taxierten ihren Lebenswandel schon früh als “liederlich”, auch war sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Durch die Heirat mit einem Deutschen verlor die siebenfache Mutter die Schweizer Staatsbürgerschaft. Kurz nach Kriegsausbruch suchte sie als 54-Jährige Zuflucht in der Schweiz und stellte ein Gesuch um Wiedereinbürgerung. Es wurde abgewiesen. Sie sei “eine notorische Dirne und Rechtsbrecherin”, man werde sich hüten, “ein solches Weibsbild wieder ins Kantonsbürgerrecht aufzunehmen”, befand ein Funktionsträger. Anna Böhringer musste ausreisen. 1945 starb sie im KZ Ravensbrück. Später lehnte die Schweiz auch das Gesuch der Tochter um Entschädigung ab. Die Mutter sei zum Zeitpunkt der Verhaftung nicht Schweizerin gewesen, so die Begründung.

Die im Buch aufgeführten 391 KZ-Opfer sind inzwischen alle verstorben. Was sie durchmachten, verfolgte Überlebende wie Albert Mülli bis ins Alter. Der Zürcher Sanitärmonteur und Sozialdemokrat wurde 1938 in Wien von der Gestapo verhaftet und später als politischer Gefangener ins KZ Dachau überführt. Man warf ihm Kontakte zu Kommunisten vor. Mülli überstand sechs Jahre Haft. Er kehrte in die Schweiz zurück, baute sich eine Existenz auf, war Mitglied des Kantonsparlaments. Vor seinem Tod 1997 holte ihn die Vergangenheit ein. Im Pflegeheim, wo er demenzkrank lebte, quälten ihn Alpträume. Tag und Nacht durchlebte er das Grauen des Konzentrationslagers. Dies mitansehen zu müssen, habe sehr weh getan, erzählte Müllis Tochter den Buchautoren.

Mann mit Häftlingskleidung in den Händen
Der Zürcher Sozialdemokrat Albert Mülli, hier im Jahr 1995, geriet 1938 in Wien in die Fänge der Gestapo. Er überlebte mehrere Jahre im KZ Dachau. Zurück in der Schweiz, bespitzelte ihn der Nachrichtendienst. NZZ Libro

Erinnerung wach halten

Das Buch sei erst der Anfang, sagt Balz Spörri, es brauche breite Forschung über Schweizer Opfer des Nazi-Terrors. Auch moralische Wiedergutmachung sei nötig: die Anerkennung, dass es diese Opfer gab. Dass ihnen Leid angetan wurde, Unrecht widerfuhr. Viele von ihnen hätten gegen das NS-Regime gekämpft und dies mit dem Leben bezahlt: “Wir finden es an der Zeit, dass einmal ein Mitglied des Bundesrats etwas dazu sagt.” Der Buchautor begrüsst das Engagement der Auslandschweizer-Organisation für eine Gedenkstätte. Der Bundesrat blieb zum Thema Gedenkstätte bisher vage.

Um auch jüngere Generationen anzusprechen, könnte ein Mahnmal mit digitalen Formen der Erinnerung kombiniert werden, regt Spörri an. Etwa in Form einer Website mit den Lebensgeschichten der Opfer, als virtuelle Gedenkstätte. Klar ist: Bald gibt es nirgends mehr Zeitzeugen des Holocausts. Umso wichtiger, dass ihre Erzählungen im kollektiven Gedächtnis bewahrt bleiben.

Dieser Artikel erschien erstmals in der Schweizer RevueExterner Link.
Bibliografiehinweis: Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs. Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid, NZZ Libro.

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