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EU-Erweiterung: Chance oder Bedrohung?

Am Fuss der Akropolis haben die neuen zehn Staaten ihren Beitritt zur EU formell gemacht. Keystone

An der Frage, ob die europäische Integration für die Schweiz eine Chance oder eine Bedrohung ist, scheiden sich die Geister im Lande.

Mit der Erweiterung der EU nach Osten wird die Schweiz noch mehr zur Insel im Herzen des Kontinents.

Die Europäische Union macht einen weiteren Schritt auf dem Weg der politischen und wirtschaftlichen Integration. Die Beitrittsverträge mit den zehn neuen Staaten aus dem Osten Europas sind am EU-Erweiterungsgipfel am Mittwoch in Athen unterzeichnet worden.

Am Tag darauf nimmt der Schweizer Bundespräsident Pascal Couchepin an der “Europa-Konferenz” teil. Diese Konferenz ist ein Forum, an der die EU-Staaten und Nicht-EU-Staaten zusammenkommen.

Chance oder Bedrohung?

Die Erweiterung wird sich auch auf die Schweiz auswirken, deren Verhältnis zur EU mit sieben bilateralen Abkommen geregelt ist. Die Verhandlungen für ein zweites Paket bilateraler Verträge sind im Gange. Es geht unter anderem um Asyl-Themen (Stichwort Dublin), um Polizei-Zusammenarbeit (Schengen) und um das Schweizer Bankgeheimnis (Steuerdelikte).

Ob die Erweiterung der EU für die Schweiz positive oder negative Auswirkungen hat, ist umstritten.

So begrüsst der sozialdemokratische Abgeordnete Andreas Gross die Integration der ehemaligen Ostblock-Staaten in die EU. Dies sei eine auch für die Schweiz erfreuliche Entwicklung.

Ganz anders die politische Rechte, die bereits mit einem Referendum droht, weil sie aus den neuen EU-Staaten einen Zustrom von Migrationswilligen befürchtet.

Auf wenig Gegenliebe bei den Bürgerlichen stösst auch, dass in EU-Kreisen schon laut wurde, man erwarte, dass sich Bern am Kohäsionsfonds für die neuen Staaten beteilige. Es sei nicht einzusehen, wieso die Schweiz die Erweiterung der EU mitfinanzieren sollte, wird argumentiert.

Grösserer Markt – auch Schweiz profitiert

Für den überzeugten Europäer Gross zeigt die Aufnahme der zehn neuen Staaten, dass die EU nicht nur ein Club der reichen Staaten ist, sondern auch jene Teile Europas umfassen wird, die bis zum Fall der Berliner Mauer unter sowjetischer Dominanz standen.

Für diese Staaten öffne sich damit die Perspektive des wirtschaftlichen Aufschwungs, was nur positiv sein könne.

Andreas Gross hat auch keine Einwände, dass aus EU-Kreisen von der Schweiz eine Beteiligung an der Strukturhilfe für die neuen Staaten erwartet wird.

“Es geht nicht um die Finanzierung der Erweiterung der EU. Es geht darum, sich an den Kosten zum Aufbau eines grösseren Marktes zu beteiligen, von dem schliesslich auch die Schweizer Wirtschaft profitieren wird”, erklärt Gross gegenüber swissinfo.

Die Schweiz habe der friedlichen, wirtschaftlichen Entwicklung Europas in den letzten 50 Jahren viel zu verdanken. Daher sei es auch in Ordnung, dass die Europäische Union von Bern einen finanziellen Beitrag erwarte.

FPD und SVP wollen keine Erweiterungs-Kosten tragen



Die neue Präsidentin der Freisinnigen Partei (FDP), Christiane Langenberger, vertritt hingegen die Auffassung, dass die Schweiz sich als Nicht-Mitglied nicht finanziell am Aufbau der neuen EU-Staaten zu beteiligen habe.

Für den Dachverband der Schweizer Wirtschaft, economiesuisse, ist die Frage der Beteiligung am Kohäsionsfonds ein “eher unübliches Anliegen”, wie economiesuisse-Sekretär Gregor Kündig auf Anfrage von swissinfo sagt.

Auch die Schweizerische Volkspartei (SVP) will nichts wissen von finanziellen Forderungen. Zudem droht sie schon heute mit einem Referendum gegen die Ausweitung des bilateralen Abkommens zum freien Personenverkehr.

Die SVP warnt, wie schon bei den ersten bilateralen Verträgen, vor einem Ansturm von Arbeitswilligen, die aus den neuen EU-Staaten in die Schweiz kommen würden. Eine Voraussage übrigens, die bisher nicht eingetreten ist.

Doch die SVP beharrt :”Die anderen Parteien lassen ausser acht, dass die Bevölkerung genug hat von der Migration.” Die bisherigen EU-Staaten seien “relativ reich”, erklärt Aliki Panayides, Vize-Generalsekretärin der SVP. In den neuen Staaten aber gebe es viele Menschen, die in die Schweiz kommen wollten.

Nachverhandlungen

Mit dem Beitritt zur EU werden die zehn neuen Staaten auch Partner der Schweiz, der Geltungsbereich der bilateralen Abkommen Schweiz-EU soll auf sie ausgedehnt werden.

Ausnahme ist das Personenfreizügigkeits-Dossier, das mit den einzelnen Staaten neu verhandelt werden muss. In der Schweiz käme es danach wohl noch zu einer Referendums-Abstimmung.

Die FDP betrachtet die Ausweitung des Abkommens als Chance an neue (zumeist nicht oder wenig qualifizierte) Arbeitskräfte zu kommen, an denen es im Tourismus, in der Landwirtschaft oder im Gesundheitswesen mangle.

Auf wenig Gegenliebe stösst diese Argumentation bei den Gewerkschaften, wo auf die auch in der Schweiz relativ hohe Arbeitslosigkeit hingewiesen wird.

Migration ist eine Realität



Grosse neue Arbeitsmigration brauche die Schweiz auch nach dem Beitritt der neuen osteuropäischen Staaten nicht zu fürchten, sagt hingegen Gross.

Er wehrt sich zudem gegen den Mythos vom “lockenden Paradies Schweiz”. Im Prinzip blieben die Menschen nämlich lieber dort, wo sie zu Hause seien – und die EU-Mitgliedschaft ermögliche eben dies, indem sie eine ökonomische Perspektive für die Menschen schaffe.

Wohlstandsgefälle

Mit immer schärferen Gesetzen im Asyl- und Ausländerrecht könne man zudem die Migration nicht eindämmen, da man nur Symptome bekämpfe. “Die weltweite Migration ist heute eine Realität”, betont Gross. “Der Grund ist das Wohlstandsgefälle, die ungleiche Verteilung des Reichtums in der Welt.”

Daher fordere auch die UNO seit langem, dass die Industrienationen 0,7% ihres Bruttosozialprodukts (BSP) in Entwicklungs- und Zusammenarbeit fliessen liessen.

“Wer nicht bereit ist, dort Kapital zu investieren, wo es fehlt, darf sich nicht wundern, wenn die Menschen dorthin kommen, wo das Kapital liegt.”

swissinfo, Rita Emch

Die zehn Staaten, die auf den 1. Mai 2004 der EU beitreten, sind:
Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn und Zypern.

Die ersten bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU, zu dem das Personenfreizügigkeits-Abkommen gehört, sind seit dem 1. Juni 2002 in Kraft.

Verhandlungen über ein zweites Paket mit zehn weiteren Abkommen sind derzeit im Gang. Dazu gehören Fragen wie Asyl, Migration, Zinsbesteuerung (Bankgeheimnis), wo die Verhandlungen derzeit harzig verlaufen.

Die Europa-Konferenz, an der Bundespräsident Couchepin in Athen teilnimmt, war von der EU 1997 als Forum für den politischen Dialog mit potenziellen Beitrittsstaaten gegründet worden. Seit 1998 ist auch die Schweiz dabei und hat damit eine Gelegenheit, mit den Vertretern aller EU-Staaten an einem Tisch zu sitzen.

Wenn die zehn neuen Staaten im Mai nächsten Jahres der EU beitreten, wächst die Zahl der Mitgliedstaaten auf 25. Die Bevölkerung der Union wird dann um rund 75 Millionen Menschen auf knapp 454 anwachsen.

Fläche der EU-Staaten 3.2 Mio. km2, Fläche der zehn neuen Staaten 0.7 Mio. km2

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