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“Es wird Blockaden im Schweizer Politsystem geben”

Adrian Vatter
Sieht die "Propaganda-Dominanz von finanzkräftigen Interessengruppen als Gefahr für die Demokratie": der Berner Politologe Adrian Vatter. zvg

Digitalisierung, Europäisierung, Globalisierung: Diese Phänomene dürften aufgrund ihres Beschleunigungs-Effekts die direkte Demokratie der Schweiz künftig vermehrt unter Druck setzen. Das sagt der Berner Politologie-Professor Adrian Vatter. Verlangsamende Mitbestimmung stünde im Zielkonflikt mit erforderlichem raschem Handeln.

swissinfo.ch: Erst mal zur “Buchhaltung” der direkten Demokratie? Welches sind ihre wichtigsten Vor- und Nachteile?

Adrian VatterExterner Link: Die Vorteile der Volksrechte liegen für mich im edukativen Bereich der Bürgerschaft. Konkret heisst das: Dort, wo wir eine ausgebaute direkte Demokratie haben, beispielsweise in der Schweiz, in einzelnen Kantonen und Gemeinden, ist das politische Wissen, die politische Informiertheit und auch das Vertrauen in das politische System weitaus höher als dort, wo wir weniger direkte Demokratie haben. Dies halte ich für einen der grössten Vorteile dieses Systems.

Die Nachteile sehe ich in der Gefahr der Propaganda-Dominanz von finanzkräftigen Interessengruppen. Dadurch wird das Volksrecht, also die direkte Demokratie, paradoxerweise in ein Verbänderecht umgewandelt. Dieses ist für jene Gruppierungen attraktiv, die über die Organisation verfügen, in kurzer Zeit die nötigen Unterschriften für ein Referendum sammeln zu können.

Einen weiteren Nachteil sehe ich im einseitigen Minderheitenschutz. Es besteht zumindest teilweise die Gefahr der “Tyrannei der Mehrheit” gegenüber Minderheiten. Einzelne Minderheitengruppen wie Ausländer und Muslime sind besonders negativ durch Volksentscheide betroffen. Dabei sind dies gerade diejenigen Gruppen, die über kein direktdemokratisches Mitwirkungsrecht verfügen. Hier ist Handlungsbedarf angezeigt. 

swissinfo.ch: Welche Möglichkeiten sehen Sie?

A.V.: Es gibt verschiedene Optionen. Die radikalste Lösung wäre jene, wie wir sie von Deutschland kennen. Dessen Grundgesetz umfasst Artikel zu Grund- und Menschenrechten, die unantastbar sind. Wir könnten in diese Richtung gehen, indem wir in der Schweizer Verfassung bestimmte Grundrechte verankern, insbesondere solche für Minderheiten.

Man müsste aber gar nicht so weit gehen. Es ist auch vorstellbar, dass man im Vorfeld von Abstimmungen und sogar auf dem Stimmzettel selbst prominente Hinweise liefert. Nämlich darauf, dass eine Annahme dieser Vorlage bestimmte Grundrechte, Menschenrechte oder internationale Völkerverträge verletzt. Ebenso, dass dies die Kündigung von internationalen Verträgen zur Folge hätte. Versuche in diese Richtung zeigen, dass solche Hinweise durchaus Wirkung haben.

Adrian Vatter

Seit August 2009 Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und Inhaber der Professur für Schweizer Politik.

Davor hatte der 50-jährige Berner Politologe Professuren an den Universitäten von Konstanz in Deutschland und der Universität Zürich inne.

Zu Vatters Forschungsschwerpunkten gehören u. a. Demokratieforschung, direkte Demokratie, Konkordanz und Föderalismus.

Jüngste Publikationen als Mitautor: “Das Handbuch der Abstimmungsforschung” und “Das politische System der Schweiz” (Alleinautor) sowie «Handbuch der Schweizer Politik» (alle 2014).

Vatter ist zudem Herausgeber der “Swiss Political Science Review” (Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft). Ein Schwerpunkt dieser Publikation ist die direkte Demokratie weltweit.

swissinfo.ch: Als Stärke der direkten Demokratie nennen Sie das Vertrauen in das politische System und dessen Institutionen. Was die Regierung betrifft, gibt es jetzt einen interessanten Widerspruch: Einerseits hat der Bundesrat zuletzt mehrere wichtige Abstimmungen verloren, andererseits aber geniesst er im Volk das höchste Vertrauen seit 15 Jahren. Wie ist das erklärbar?

A.V.: Das Schweizer Volk kann durchaus unterscheiden zwischen den verschiedenen Akteuren, hier Bundesrat und dort direkte Demokratie, mit ihrer jeweiligen Funktion und ihrer Berechtigung. Den Tiefpunkt der letzten 15 Jahre punkto Vertrauen erreichte der Bundesrat zwischen 2003 und 2007. Die Regierung war damals neu zusammengesetzt und untereinander zerstritten.

Seit einigen Jahren tritt der Bundesrat nun wieder geschlossener auf. Die sieben Mitglieder vertragen sich besser und halten das Prinzip der Kollegialität wieder hoch. Das wird von der Stimmbürgerschaft geschätzt. Dabei kann es aber durchaus sein, dass man beim einen oder anderen Volksentscheid nicht gleicher Meinung wie die Regierung sein muss.

swissinfo.ch: Zur digitalen Revolution und ihren Folgen auf die direkte Demokratie: Erstere bringt eine enorme, globale Beschleunigung fast aller Bereiche. Letztere ist, zumindest in der Schweiz, auf Bedächtigkeit, ja, Langsamkeit ausgelegt. Wird dies so bleiben?

A.V.: Es ist völlig richtig, dass unsere direkte Demokratie zu einer Verlangsamung der Entscheidungsprozesse geführt hat. Dies ist auch eine Folge des Konkordanz-Systems und dem Zwang zum Konsens. Das macht in der Schweizer Politik alles etwas langsamer.

Dies hat aber den Vorteil, dass man nicht unbedingt die Fehler macht, die man später wieder korrigieren muss. Eine gewisse Stetigkeit und ein langsamer Takt der Veränderung können durchaus Vorteile haben. Etwa in Form einer gewissen Erwartungssicherheit, die gerade wirtschaftlichen Akteuren wichtig ist.

Die Digitalisierung selbst wird nicht ohne konkrete Folgen für die direkte Demokratie bleiben. Ich denke an E-Voting, neue Formen der Information, von deren Vermittlung oder der Propaganda, die verstärkt über die sozialen Medien, also digitale Kanäle, verbreitet werden. Dies wiederum hat einen Einfluss auf die Bürger, die entweder an die Urne gehen oder zuhause bleiben.  

swissinfo.ch: Wird die digitale Beschleunigung auch das in der Schweiz besonders fein austarierte Ineinandergreifen von direkter und indirekter, also parlamentarischer Demokratie erfassen?

A.V.: Der Druck zur Beschleunigung kommt nicht allein aufgrund der Digitalisierung. Ein genereller Druck, wie wir ihn in der Schweiz verspüren, entsteht durch die Europäisierung und Globalisierung. Die Schweiz muss reagieren, wenn die EU oder internationale Organisationen rasche Entscheide treffen. Hier haben wir genau diesen Zielkonflikt: Die direkte Demokratie auf der einen Seite, in der alle mitbestimmen wollen. Und das kostet Zeit. Auf der anderen Seite gibt es rasche ökonomische Entwicklungen wie die Finanzkrise 2008/09, die erfordern, dass gerade der Bundesrat schnell handeln muss.

Hier werden wir in Zukunft Konflikte und unter Umständen gar gewisse Blockaden im politischen System haben. Dies könnte im einen oder anderen Fall zu Reformdruck im System der direkten Demokratie führen. Ich denke etwa daran, dass wir über den Geltungsbereich von Volksabstimmungen über internationale Abkommen, also das Staatsvertragsreferendum, in Zukunft noch heftige Debatten haben werden.

swissinfo.ch: Abgesehen davon: Welche Retouchen an der direkten Demokratie soll oder muss die Schweiz in den nächsten fünf Jahren vornehmen?

A.V.: Grundsätzlich gilt, dass es schwierig ist, die direkte Demokratie zu reformieren. Noch schwieriger ist es, bestimmte Volksrechte ausser Kraft zu setzen. Wir hatten zwar solche Fälle, etwa mit der Abschaffung der allgemeinen Volksinitiative, bei der nicht für einen konkreten Verfassungsartikel, sondern nur für eine allgemeine Anregung zur Verfassungsänderung Unterschriften gesammelt werden konnten.  Diese Möglichkeit wurde aber von niemandem genutzt. Das ist also durchaus möglich.

Dies setzt aber voraus, dass die politische Elite, also Bundesrat und die grossen Parteien, wirklich geschlossen auftreten und mit Vorschlägen kommen, die von allen unterstützt werden. Grundsätzlich gilt aber, dass unser halb-direktdemokratisches System bis heute gut funktioniert und eine hohe Legitimation hat.

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