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10 Jahre Amoklauf Zug: Sicherheit versus Freiheit

Ein bewaffneter Sicherheitsbeamter überwacht im Eidgenössischen Parlament einen der Eingänge zum Nationalratssaal. Keystone

Zehn Jahre nach dem Amoklauf von Zug werden Parlamente in der Schweiz professioneller geschützt als zuvor. Bundesräte und Abgeordnete geniessen aber noch immer grosse Freiheiten. Wie viel Sicherheit verträgt eine offene Gesellschaft wie die Schweiz?

Nur dank Zufall hat er den Amoklauf überlebt – Heinz Tännler, heute Baudirektor des Kantons Zug, damals, am Donnerstag, 27. September 2001 Kantonsrat und in der hintersten Reihe des Zuger Kantonsparlaments sitzend.

Unter einem Pult verbrachte er die schlimmsten vier Minuten seines Lebens.

Als Baudirektor ist Regierungsrat Tännler heute für die Fachstelle Sicherheit zuständig. Diese war nach der Umsetzung von ersten Massnahmen geschaffen worden.

Eine als Sofortmassnahme einberufene Arbeitsgruppe hatte folgende zentrale Änderungen vorgeschlagen, die der Kantonsrat absegnete: “Es sind insbesondere bauliche Massnahmen, die Schaffung von Sicherheitszonen und die laufende obligatorische Schulung des Personals in der kantonalen Verwaltung, was Sicherheitsbelange betrifft”, sagt Tännler gegenüber swissinfo.ch.

Auch Bern reagierte rasch

Hans Peter Gerschwiler, stellvertretender Generalsekretär der Bundesversammlung und unter anderem verantwortlich für die Sicherheit im Eidgenössischen Parlament in Bern, war im Parlamentsgebäude, als er vom Amoklauf in Zug hörte. “Wir waren natürlich sehr schockiert.”

Unbürokratisch rasch reagierte man in Bundesbern auf die Tat, welche die Schweiz damals kurz nach den Anschlägen in den USA vom 11. September völlig unerwartet getroffen hatte. Das Parlament war in dieser Zeit in Session. Das Bundeshaus stand daher im möglichen Fokus von Nachahmern.

“Über das Wochenende haben wir unsere Sicherheits-Massnahmen sofort stark angehoben”, erinnert sich Gerschwiler. Dies sei derart rasch möglich gewesen, weil man ein praktisch pfannenfertiges Konzept aus der Schublade habe ziehen können und personelle Reserven des Festungswachtkorps zur Verfügung gestanden hätten. Wegen zunehmenden Zwischenfällen sei man schon seit etwa einem Jahr daran gewesen, das Sicherheitskonzept zu überarbeiten.

“Am bekanntesten in der Öffentlichkeit ist der Fall, als Kurden im Dezember 2000 während einer öffentlichen Führung die Gruppe im Ständeratssaal zurückbehalten und den Saal besetzt haben, um Forderungen anbringen zu können”, sagt Gerschwiler.

Praktisch über Nacht standen also Besuchende einer Kontrolle ähnlich wie in einem Flughafen gegenüber. “Vorher war es Folklore”, schrieb die Westschweizer Wochenzeitschrift L’Hebdo. Es reichte, einen Namen anzugeben, wen man besuchen wollte. “Die Person wurde weder identifiziert noch irgendwie kontrolliert”, so Gerschwiler. “Und sie stand bereits im Haus und hätte natürlich jederzeit aggressiv werden oder irgendetwas machen können.”

“Massvolle Eingriffe”

Heute ist dies nicht mehr möglich. Wer nicht akkreditiert und mit einem Badge elektronisch erfasst wird, muss die Kontrolle passieren. Die Sicherheitsbeamten, heute Profis, sind seit einigen Jahren auch bewaffnet. Vor einigen Monaten musste sich auch Kurt Spillmann dieser Kontrolle unterziehen lassen, als er ins Parlamentsgebäude eingeladen worden war.

“Ich störe mich nicht an Sicherheitsmassnahmen, weil ich finde, das hat alles – leider – jetzt seine Berechtigung”, sagt der emeritierte Professor für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung. Er erfuhr damals vom Zuger Amoklauf aus dem Radio.

Die Frage sei immer, wie weit man seine Freiheit zum Wohl der gesamten Gesellschaft einschränken müsse. “Die Freiheit aller beruht auf einem ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag: Du lässt mir meine Freiheit, ich lasse Dir die Deine.”

Und in diesem Bereich sei die Freiheit in der Schweiz immer noch verhältnismässig gross, ist der Experte überzeugt. “Wenn ich an Einwanderungs-Bestimmungen oder Massnahmen in den USA denke, dann sind wir in der Schweiz immer noch sehr, sehr massvoll in der Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit des Einzelnen.”

Gefährdete Magistratspersonen?

Weltweit gesehen gehe der Trend aber schon in Richtung vermehrter Angriffe gegen öffentliche Personen, gibt Spillmann zu bedenken. Gerade in der Schweiz ist man aber stolz darauf, dass man eine Bundesrätin, einen Parlamentarier auf der Strasse, im Restaurant oder im Tram ohne Begleitschutz treffen kann.

Doch auch in diesem Bereich hat es seit Zug Anpassungen gegeben, wie der für die Sicherheit von Magistratspersonen zuständige Bundessicherheitsdienst schreibt: “Die Sicherheitsmassnahmen werden nach Ereignissen und Vorfällen immer überprüft und allenfalls angepasst”, heisst es. Diskretion steht dabei an erster Stelle. Daher will das Bundesamt für Polizei über einzelne Schutzmassnahmen keine genaue Auskunft geben.

Grauzone Internet

Im Vergleich noch wenig geschehen sei im Internet, sagt Sicherheits-Experte Spillmann. Gerade nach der Schreckenstat in Norwegen, wo ein Massenmörder zuvor im Netz seine Thesen verbreitet hatte, steht diese Form von Terrorismus wieder im Fokus.

Dass man in diesem Zusammenhang “extreme Organisationen mit destruktiven Absichten, wie sie sowohl am linken wie am rechten Rande der Gesellschaft immer existieren, unter die Lupe nehmen sollte, halte ich für ein erlaubtes Mittel, um zukünftigem Schaden vorzubeugen”, so Spillmann.

Hans Peter Gerschwiler, der Sicherheitsverantwortliche für die Bundesversammlung, hat nach der Tat in Norwegen die Massnahmen im Parlamentsgebäude überprüft. Sie entsprächen nach wie vor den Bedürfnissen, sagt er.

Er trifft sich regelmässig mit Berufskollegen von Parlamenten anderer Länder und kann daher auch vergleichen, wo etwa die Schweiz mit ihren Sicherheitsmassnahmen steht: “Es ist immer noch ein sehr offenes Haus, ein sehr liberales System.”

11.9.: In den USA richten Selbstmord-Attentäter mit drei Flugzeugen ein Blutbad und Chaos an: Etwa 3000 Menschen kommen in New York und Washington sowie beim Absturz eines vierten gekaperten Flugzeugs ums Leben.

27.9.: Im Kantonsparlament von Zug erschiesst ein Amokläufer 14 Personen und richtet sich danach selber.

2.10.: Die Flugzeuge der nationalen Fluggesellschaft Swissair bleiben wegen Insolvenz überall auf der Welt am Boden (Grounding).

24.10.: Nach dem Zusammenstoss zweier Lastwagen im Gotthard-Strassentunnel kommt es zu einem Brand. 11 Menschen sterben.

24.11.: Beim Absturz eines Crossair-Flugzeugs auf dem Weg von Berlin nach Zürich kommen bei Bassersdorf in Flughafennähe 24 von 33 Passagieren und Crewmitgliedern ums Leben.

Vor dem Amoklauf in Zug betrugen die Ausgaben für den Logendienst der Eidgenössischen Bundesversammlung rund 1 Mio. Fr.

Die Kosten haben laut dem Sicherheitschef Hans Peter Gerschwiler seither “deutlich zugenommen”.

Heute rechnet er mit Kosten von rund 4 Mio. Fr. pro Jahr für den grösstenteils ausgelagerten Sicherheitsdienst.

Trotz erhöhter Sicherheit will das Parlamentsgebäude in Bern weiterhin ein offenes Haus bleiben.

Die Führungen durch das Gebäude seien “extrem populär” und für Gruppen auf Monate ausgebucht, heisst es. Es werde daher geraten, früh genug zu buchen.

Einzelpersonen könnten aber an einer Führung pro Tag auch spontan teilnehmen.

Die Führungen im Parlamentsgebäude sind kostenlos.

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