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Zug will vorwärts schauen

Moritz Schmid bei sich daheim in Walchwil. swissinfo.ch

Ein Jahr ist es her seit dem Amoklauf, der vierzehn Todesopfer forderte. Doch Zug will keine laute Gedenkfeier.

Damals ging das Bild von Kantonsrat Moritz Schmid, Gesicht und Hand blutüberströmt, um die Welt. Langsam erholt er sich vom Trauma.

Die Wahlplakate, die wir bei der Einfahrt in Zug sehen, muten seltsam an: Diese lächelnden Gesichter rufen zur Wahl auf, am 6. Oktober auf Gemeindeebene, am 27. Oktober für den Kantonsrat. Waren diese Leute möglicherweise auch im Parlamentssaal, als am 27. September 2001 ein rasender Friedrich Leibacher den Saal betrat, sofort anfing, um sich zu schiessen und dabei vierzehn Personen tötete und Dutzende verletzte?

Doch diese Wahlen und diese lächelnden Gesichter machen einen Wunsch der Zugerinnen und Zuger deutlich: zur Normalität zurückzukehren. Aus diesem Grund lehnen wohl viele von ihnen – auch Regierungsmitglieder – ein Interview ab.

Moritz Schmid hat nichts dagegen, an das zurückzudenken, was vor einem Jahr geschehen ist. Der Unternehmer und Eigentümer eines Gipswerks empfängt uns, die bandagierte Hand in einer Schiene, in seinem Heim in Walchwil am Zugersee, sechs Kilometer von der Hauptstadt entfernt.

«Ich verstehe die Leute, die nicht darüber sprechen möchten», erklärt er. «Ich dagegen finde, ich bin das all jenen schuldig, die mich unterstützten. Dank ihnen und meiner Familie bin ich damit fertig geworden. Ich erhalte noch immer Blumen und Karten. Und jedes Mal, wenn ich davon spreche, scheint es mir, dass ‹es› ein wenig mehr herauskommt, etwas weiter weg ist.»

Vier Operationen

«Am Freitag», so Schmid weiter, «ist wieder eine Etappe abgeschlossen. Es ist nicht leicht, alles nochmals aufzuwühlen, aber dann können wir, meine Familie und ich, zu etwas anderem übergehen. Auch deshalb wollte ich die vierte und letzte Operation meiner Hand hinter mich bringen, die eigentlich für diesen Winter vorgesehen war.» Schmid weiss heute, dass zwei Finger praktisch gelähmt bleiben.

Seit 1999 ist das 53-jährige Mitglied der Volkspartei im Kantonsrat. Er sass an seinem Platz ganz vorne, als Leibacher am 27. September in den Parlamentssaal stürmte. Sein Nachbar stand nicht mehr auf.

«Als ich aus dem Gebäude kam, sagte mir ein Notfallarzt, ich solle mich auf die Stufen setzen. Aber ich sah das Bein einer jungen, schwer verletzten Frau auf dem Boden vor mir und wollte lieber gehen. Ich stand auf, um ins Spital zu gehen, zu Fuss, denn es waren keine Ambulanzen mehr frei.»

Diesen Moment hielt der Fotograf Christoph Borner von der «Zuger Presse» fest. Sein Bild erhielt später den Preis «Swiss Press Photo 2001» und ging um die Welt.

Politisch hat sich nichts verändert

Hat die Schiesserei die Beziehungen zwischen den Leuten verändert? Moritz Schmid glaubt das nicht, wie er etwas bitter feststellt. «Wir haben Wahlen. Niemand kennt sich mehr.» Er wünscht sich weniger Egoismus, mehr Mitgefühl, auch gegenüber jenen, mit denen man nicht gleicher Meinung ist.

«Man hätte das Attentat wahrscheinlich nicht verhindern können», meint der Kantonsrat. «Aber es waren Fehler gemacht worden bei den Antworten, die man Leibacher auf seine Forderungen gegeben hatte.» Schmid begrüsst übrigens die Schaffung des Postens eines kantonalen Mediators (im Halbamt ab dem 1. Januar).

Und die Moral? Schmid hat Höhen und Tiefen. «Aber das hatte ich schon vorher», meint er lächelnd. Was fühlte er, als einige Monate später Abgeordnete in Nanterre erschossen wurden? «Ich dachte: Jetzt geht das weiter. Leibacher hat ein Tabu gebrochen, den Weg geebnet. Viele denken, dass Gewalt das einzige Mittel zur Lösung von Problemen ist. Dabei muss man zuhören, den Leuten die Möglichkeit geben zu sagen, was sie denken.»

Schmid, der sein Unternehmen beinahe schliessen musste, hat durchgehalten. «Aus Verantwortungsgefühl gegenüber meinen elf Mitarbeitern», erklärt er und gibt zu, dass er noch heute von Panik ergriffen wird, wenn er Explosionen hört, zum Beispiel von Knallkörpern, ohne zu sehen, woher sie kommen.

Erinnerung

Aber die stärkste Erinnerung ist nicht eine visuelle. Es ist jene des Geruchs des vom Attentäter selbst gebastelten Sprengkörpers, zusammen mit den vielen Schüssen. «Manchmal fühle ich das wieder, sobald man vom Attentat spricht.»

Moritz Schmid weiss, was er am Freitag tun wird. Um 10 Uhr trifft er sich mit jemandem zum Kaffee. Am Mittag hört er die Glocken läuten und geht dann in die Kirche von Walchwil, wo ein Gedenkgottesdienst stattfinden wird. Und am Abend will er in Zug das Requiem von Mozart hören. «So ein Jahrestag ist wichtig. Man darf die vierzehn Toten nicht vergessen.» Seine freundlichen hellen Augen füllen sich mit Traurigkeit.

swissinfo, Ariane Gigon Bormann

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