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Der Wächter über die Menschenrechte

Wenn sich die Dossiers stapeln: Luzius Wildhaber in seinem Strassburger Büro. swissinfo.ch

800 Mio. Menschen können am Europäischen Gerichtshof in Strassburg die Missachtung von Menschenrechten beanstanden. Sein Präsident Luzius Wildhaber amtet dort seit 16 Jahren. Aber nicht mehr lange.

Im Gespräch mit swissinfo spricht der Basler über Erfolge und Probleme, den riesigen Pendenzenberg und die sich ändernden Gegebenheiten.

swissinfo: Was für ein Mensch muss man sein, um am Gerichtshof in Strassburg richten zu können – ein Pragmatiker, Idealist, Kämpfer?

Luzius Wildhaber: Man muss sowohl Idealist, Realist wie auch Pragmatiker sein. Den Kämpfer sehe ich hier eher nicht. Das ist ein Gericht, an dem Fälle behandelt werden.

swissinfo: Gibt es in Ihren Augen wichtige und weniger wichtige Menschenrechte?

L.W.: Es gibt einen Satz, der sagt, die Menschenrechte seien unteilbar. Das tönt nicht nur gut, sondern stimmt im Grunde genommen auch. Es braucht ein ganzes Umfeld, damit ein Staat frei und demokratisch ist.

Wir haben hier Fälle, wo Leute verschwunden sind oder willkürlich gefoltert wurden.

In anderen Fällen unterhält man sich darüber, ob fünf Jahre Gerichtsdauer vor zwei Instanzen zu lang seien oder nicht.

Sie finden sicher auch, dass es nicht dasselbe ist, ob es um Leben oder Tod geht oder um die Korrektheit eines Verfahrens auf einer nicht sehr spektakulären Stufe.

Man wäre doch sehr abgestumpft, würde man den Satz über die Unteilbarkeit der Menschenrechte so verstehen, dass alle gleich sind.

swissinfo: Welches war der brisanteste Fall während Ihren 16 Jahren in Strassburg?

L.W.: Das kann und will ich nicht sagen. Wir haben 46 Staaten. Für den einen Staat ist dies brisant, für den anderen jenes.

Für die Türkei wird es wohl der Fall des PKK-Führers Öcalan sein oder der Fall über das Kopftuchverbot an der medizinischen Fakultät der Universität Istanbul.

swissinfo: Aus welchen Gründen gehen Klagen aus der Schweiz ein?

L.W.: Ich habe Hunderte oder gar Tausende Fälle aus der Schweiz gehabt. Es geht dabei insbesondere um Verfahrens-Gerechtigkeit, Unabhängigkeit der Gerichte, häufig auch um Meinungs- und Pressefreiheit.

swissinfo: Der Gerichtshof ist völlig überlastet, 90’000 Fälle sind hängig. Wieso ist die Lage so desolat?

L.W.: Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 haben wir 21 zentral- und osteuropäische Staaten aufgenommen, darunter auch bevölkerungsreiche und solche, die keine lange Tradition unabhängiger Gerichte haben. Weil das Vertrauen in die lokalen Gerichte eher gering ist, kommen sie umso eher zu uns.

Wir sind ein europäisches Gericht für 800 Mio. potentielle Beschwerdeführer. Zwei Drittel aller Fälle kommen aus den zentral- und osteuropäischen Staaten, 7 – 8 % stammen aus der Türkei. Die Zahl der Fälle aus Westeuropa liegt unter 30%, hat aber auch zugenommen.

Unser Budget ist seit Jahren viel zu niedrig, um alle Fälle prompt erledigen zu können. Zudem sollten Routinefälle von den Staaten selbst geregelt werden. Dafür braucht es kein europäisches Gericht.

swissinfo: Die Mitgliedstaaten müssen den Urteilen aus Strassburg Folge leisten. Tun sie das auch?

L.W.: Im Grossen und Ganzen klappt es gut. Es gibt aber immer wieder Fälle, die Probleme bereiten.

Wir treffen eigentlich Feststellungs-Urteile. Wir sagen, im Fall XY sei eine bestimmte Garantie der Konvention verletzt worden. Die Staaten müssen dann dem Minister-Komitee des Europarates, einer politischen Instanz, berichten, wie sie dieses Urteil vollzogen haben.

swissinfo: Die Urteile aus Strassburg können politische Folgen haben. Sind Sie ein politisches Gericht?

L.W.: Ein Teil unserer Urteile bringt die Regierungen in Verlegenheit. Keine lässt sich gerne sagen, sie habe gefoltert oder sei für eine Folterung oder das Verschwinden von Personen verantwortlich.

Dann heisst es allenfalls, wir seien ein politisches Gericht. Ich glaube aber nicht, dass wir das sind. Wir sind sicher nicht zu beeinflussen durch irgendwelche Regierungen.

swissinfo: Haben Sie auch Einfluss auf etablierte Rechtsstaaten?

L.W.: Es gab Fälle, die zur Änderung der Gesetzgebung in ganz Europa geführt haben. Ganz allgemein möchte ich dazu sagen, dass man Menschenrechte nicht einfach realisiert, indem man einmal eine Konvention ratifiziert.

Mit den Menschenrechten ist es wie mit der Demokratie: Man muss daran arbeiten und sich immer wieder damit auseinandersetzen. Wir reden nun häufig über terroristische Bedrohungen, was zeigt, dass sich Gegebenheiten oder Bedrohungs-Szenarien ändern können. Die Menschenrechtssprechung muss ständig angepasst werden.

swissinfo: Kann die Bekämpfung des Terrorismus in Einklang mit den Menschenrechten erfolgen?

L.W.: Dieses Thema wird die Agenda des Gerichtshofs in den nächsten 5 oder 10 Jahren sicher massgeblich belasten und beeinflussen.

Natürlich muss eine Regierung ihre Bevölkerung schützen. Die Leute erwarten selbstverständlich, dass die Regierung Massnahmen trifft, um sie zu schützen. So beginnt es.

Dann stellt sich die Frage, was notwendig ist, um die Bevölkerung zu schützen, ob dabei vielleicht die Essenz eines freien und offenen Staates verraten würde und deswegen eine freie und offene Gesellschaft gewissen Risiken nicht entgehen kann, weil sie sonst ihre eigene Seele verkaufen würde.

swissinfo: Am 18. Januar werden Sie 70, am 19. haben Sie Ihren letzten Tag. Fällt es Ihnen schwer, aus Strassburg wegzugehen?

L.W.: Ich konnte all die Jahre eine Arbeit machen, die ich immer als sehr sinnvoll betrachtet habe. Hier wird ein massgeblicher Beitrag für die gesamteuropäische Geschichte geleistet. Ich war sehr gerne hier, vielleicht wäre ich gerne noch länger geblieben.

Der Soziologe Max Weber hat einmal gesagt: Man muss dicke Bretter bohren im Leben. Und das hier ist ein dickes Brett – es ist der Mühe wert, daran zu bohren.

swissinfo-Interview: Gaby Ochsenbein, Strassburg

Geboren am 18. Januar 1937 in Basel.

Er studierte in Basel, Paris, Heidelberg, London und Yale Rechtswissenschaften.

Er war Rechts-Professor und später auch Rektor an der Universität Basel.

Er war massgeblich an der Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung beteiligt.

Seit 1991 ist er Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, seit 1998 dessen Präsident.

Am 19. Januar 2007 tritt er in den Ruhestand.
Sein Nachfolger wird der Franzose Jean-Paul Costa.

Der Gerichtshof überwacht seit 1959 die Einhaltung der im Jahr 1950 geschaffenen Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK) in den 46 Mitgliedstaaten mit insgesamt 800 Mio. Menschen.

Jeder Mitgliedstaat stellt einen Richter.

Die Schweiz hat die EMRK 1974 ratifiziert.

Um an den Gerichtshof in Strassburg zu gelangen, müssen alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft sein.

In der Schweiz ist das Bundesgericht in Lausanne die letzte Instanz.

Am Gerichtshof sind zur Zeit 90’000 Beschwerden hängig.

2005 wurden 1100 Urteile gefällt.

2006 kamen 50’000 neue Beschwerden hinzu, 2/3 aus Mittel- und Osteuropa.

Englisch und Französisch sind Amtssprachen.
Beschwerden können in 41 Sprachen eingereicht werden.

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