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Strassburg unterstützt Meinungsfreiheit in der Schweiz

Grenzübergang Boncourt 1944. Der Mythos "Schweiz im 2. Weltkrieg" geriet etwas ins Wanken. Keystone

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gibt einem von den Schweizer Behörden zensurierten Journalisten Recht. Das Urteil wird am Donnerstag publiziert.

Der Journalist hatte für das Westschweizer Fernsehen einen Beitrag über die Schweiz im 2. Weltkrieg produziert. Der Film wurde gerichtlich gesperrt.

“Die Schweiz ist, was die Meinungsfreiheit betrifft, ein mittelmässiges Land”, kritisiert Charles Poncet, der Verteidiger des Journalisten Daniel Monnat.

“Wir befinden uns zwar kaum in einer Tyrannei”, fährt Poncet fort. “Die Journalisten landen nicht im Gefängnis. Doch man attackiert sie auf schäbige Art.”

Es geht um eine Recherche von Monnat, die das Westschweizer Fernsehen (TSR) im Magazin “Temps présent” 1997 zweimal ausgestrahlt hat. Der Beitrag befasst sich mit der Geschichte der Schweiz im 2. Weltkrieg und den Beziehungen der Schweiz zu Deutschland, und setzte damals viel Emotionen frei.

Das Land befand sich damals mitten in der Holocaust-Krise (nachrichtenlose Vermögen) mit entsprechend negativen Folgen für das internationale Image. In der Reportage “L’Honneur perdu de la Suisse” (Die verlorene Ehre der Schweiz) brach Monnat mit dem Mythos einer Schweiz, die sich einig und mit aller Kraft dem damaligen Nazi-Deutschland entgegen gesetzt hatte.

Gegen Artikel 10 der Europäischen Konvention

Mitglieder der Schweizerischen Volkspartei (SVP) klagten gegen den Beitrag. Die Unabhängige Beschwerdeinstanz (UBI) und danach auch das Bundesgericht haben die Klage wegen “mangelnder Objektivität” gut geheissen. Der Beitrag wurde zensuriert.

Die SRG SSR idée suisse hatte das Urteil als Angriff auf die freie Berichterstattung bewertet und Rekurse eingelegt. Nach dem endgültigen Bundesgerichts-Urteil wandte sich Monnat an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.

Dieser hat nun das vom Bundesgericht bestätigte UBI-Urteil als unvereinbar mit der Menschenrechts-Konvention erklärt. Deren Artikel 10 garantiert die freie Meinungs-Äusserung.

Die SRG-Generaldirektion zeigt sich nun zufrieden mit dem Entscheid aus Strassburg. Auch Claude Torracinta, der ehemalige Chefredaktor von TSR, meint nach dem Urteil aus Strassburg, es unterstreichte die Arbeitsqualität von Daniel Monnat.

In diesem Urteil sieht Torracinta ausserdem eine “nochmalige Bestätigung der freien Meinungs-Äusserung in einer demokratischen Gesellschaft”.

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Bundesgericht

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Das Schweizerische Bundesgericht (BGer) in Lausanne wurde 1848 bei der Umwandlung der Schweiz in einen föderalistischen Bundesstaat errichtet. Bei der Totalrevision der Bundesverfassung 1874 wurde der Aufgabenkreis des Gerichts erweitert. Das Bundesgericht ist im Wesentlichen eine Rekursstelle, welche die Einhaltung des Bundesrechts überwachen muss. Das BGer prüft auch, ob die kantonalen Gesetzgebungen konform mit dem…

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Karikaturen-Streit am Fernsehen

Diese Aussage folgte nur wenige Tage nach den Druckversuchen auf die TSR seitens des Justizministers und SVP-Mitglieds Christoph Blocher. Er verlangte, es seien Karikaturen aus einer Sendung zu entfernen, an der er teilgenommen hatte.

Torracinta, selbst Verfasser eines Films zum Thema Schweiz und der 2. Weltkrieg, weist den Ausdruck “Politische Zensur” im Zusammenhang mit den Anschuldigungen an Monnat als zu hart zurück. Auch streicht er das besonders heikle emotionale Politklima jener Jahre heraus.

1997 herrschte eine Art von “So, jetzt genügt es Klima” gegenüber den Medienschaffenden, die sich mit dem trüben Kapital der Weltkriegszeit befassten.

Sicher kennt jede Freiheit ihre Beschränkung: Strafrecht (im Zusammenhang mit Rufschädigung), gesetzliche Wegschranken und journalistische Ethik umrahmen das Recht auf öffentliche Meinungsäusserung.

Claude Torracinta hat diesen Rahmen nochmals in Erinnerung gerufen. Er fügt jedoch bei, dass “einige diesen Rahmen lieber etwas enger sähen”. Es herrsche permanent ein gespanntes Verhältnis zwischen Politikern, Gewerkschaften, Fachleuten, Institutionen, Vereinigungen und Medienschaffenden.

Laut ihm seien diese Spannungen “in der Demokratie durchaus normal”. Doch sei auch ständige Vorsicht geboten, auch von Seiten der Journalisten, und die Spielregeln unter dem Gesichtspunkt der Ethik streng einzuhalten.

swissinfo, Pierre-François Besson
(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)

März 1997: Erste Ausstrahlung des Dokfilms “L’honneur perdu de la Suisse” im Magazin “Temps présent” im Westschweizer Fernsehen (TSR).

Juni 1997: Angehörige der Genfer SVP erheben Klage gegen den Beitrag.

Oktober 1997: Die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) verurteilt die Sendung.

August 1999: Die UBI bestätigt ihr Urteil.

Dezember 2000: Das Bundesgericht bestätigt das UBI-Urteil. Der Beitrag wird gesperrt.

2001: Daniel Monnat geht vor den Europäischen Gerichtshof.

September 2006: Der Gerichtshof desavouiert das Bundesgericht. TSR hebt die rechtliche Sperrung des Beitrags auf.

Die Schweiz hat 1974 die Europäische Menschenrechts-Konvention ratifiziert. Diese garantiert eine Anzahl von Grundrechten.

Wenn alle Rekursmöglichkeiten im Schweizer Rechtssystem ausgeschöpft sind, kann sich der Bürger an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wenden und dort einen Rekurs wegen Verletzung der Menschenrechts-Konvention einlegen.

Die Urteile des Gerichtshofs sind bindend. Sie können in einzelnen Fällen sogar Wiedergutmachungs-Zahlungen anordnen. Von 1974 bis 2003 nahm der Strassburger Gerichtshof 105 Klagen gegen die Schweiz an. 41 Mal wurde die Schweiz verurteilt.

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