Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Schweizer Unterstützung für Blinde in Ungarn

Matthiaskirche in Budapest: Vor der Kirche ein Anfass-Modell für Blinde und Sehbehinderte, damit sie sich eine Vorstellung des Gebäudes machen können. swissinfo.ch

Sehbehinderte benutzen heute neben der Braille-Schrift häufig auch Handy-Apps, zum Beispiel zur Identifizierung von Banknoten. In Budapest suchen Forscher mit Schweizer Unterstützung nach modernen Werkzeugen, die den Alltag für Blinde erleichtern.

Imposante Backstein-Architektur in zentraler Lage in Budapest: Im Sezessionsstil der Donaumonarchie präsentiert sich das Gebäude der ungarischen Blindenschule, 1825 nach jener in Prag als zweite Schule dieser Art in Europa gegründet. Hier wurden bis heute jeweils rund 250 sehbehinderte Kinder und Jugendliche ausgebildet.

Sie lernen die Braille-Blindenschrift, das Schreiben auf der PC-Tastatur und sich in Räumen oder draussen zu orientieren. Aber auch Therapien und Integrationshilfen werden angeboten. Die Schule unterstützt und begleitet ausserdem 130 weitere sehbehinderte Personen im Land.

Mit der Entwicklung der modernen Technologien ist auch für Sehbehinderte ein neues Zeitalter angebrochen. Die neuen Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, welche die Digitalisierung den Blinden bringe, kompensiere den Verlust ihrer traditionellen Arbeitsgebiete, sagt Schuldirektorin Ágnes Somorjai gegenüber swissinfo.ch.

Traditionelle Berufe wie Musikinstrumenten-Stimmer, Weber oder Mitarbeitende bei Call Centers gebe es immer weniger. Und Jurist, Musiker, Psychologe oder Sozialarbeiter, ebenfalls typische Berufe für Sehbehinderte, könne auch nicht jeder werden, weiss Somorjai.

IT gibt Jobs und Support

Dank IT können Sehbehinderte im Beruf und Alltag unabhängiger werden. Wenige Kilometer von der traditionellen Budapester Schule für Blinde entfernt, an der Pazmany Peter Catholic University, wird intensiv nach neuen digitalen “Tools” für Blinde geforscht. Das Forschungsprojekt wird auch mit Geld aus dem sogenannten Erweiterungsbeitrag unterstützt, mit dem die Schweiz Projekte in den neuen EU-Ländern finanziert, um wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten zu vermindern.

“Weltweit gibt es gemäss der Weltgesundheitsorganisation über 300 Millionen Blinde oder Personen, die sehbehindert sind. Forschung auf diesem Gebiet hat deshalb eine grosse Bedeutung, um die Lebensqualität dieser Leute zu verbessern”, sagt Liliana de Sá Kirchknopf, Leiterin des Schweizer Erweiterungsbeitragsbüros in Budapest.

Mit dem Geld aus dem Erweiterungsfonds werden Laptops, Handys und entsprechende Software-Lizenzen, aber auch Gewebekulturen gekauft. An der Uni oder in nahe gelegenen Spin Offs forschen die Wissenschaftler seit 2010 im High Tech-Bereich, wie Blinden der Alltag erleichtert werden könnte.

Beispiel Wert einer Banknote…

Zum Beispiel beim Bezahlen mit Papiergeld: In Ländern, in denen alle Banknoten, unabhängig vom Wert, dieselbe Grösse haben, stellt sich Blinden bereits beim Befühlen der Papiernote ein Problem. Die auf das Notenpapier serienmässig gedruckten Braille-Zeichen werden erfahrungsgemäss nach einigen Wochen Gebrauch unleserlich.

Ein Team an der Pazmany-Uni hat deshalb vor einem Jahr begonnen, Software für Handys zu produzieren. Sehbehinderte können die Handykamera über die Banknote halten und eine Handy-Stimme nennt ihnen den Wert.

…aber auch Bus-Nummern und Piktogramme

“Bald wird man diese Anwendung als simple ‘App’ einfach herunterladen”, sagt Teamleiter Akos Zarandy. Und was bei der Erkennung von Banknoten begonnen hat, setzt sich fort bei der Erkennung von Bus- oder Tramnummern und -haltestellen – “sogar nachts bei wenig Licht”, der Erkennung von Zebra-Streifen oder Piktogrammen dank Handy, sagt Zarandy.

“Denken Sie nur daran, wie viele unterschiedliche Piktogramm-Zeichen es in Restaurants gibt, um die Herren- und Damentoiletten anzuzeigen.” Für Sehbehinderte ein unnötiges Erschwernis.

Zur Zeit laufen, so Zarandy, die ersten Programme für Handys auf Symbian- oder auf Android-Basis. Und verbesserte App-Versionen würden folgen. Ausserdem arbeiteten Forscher auch an der Übertragung der gängigen Navigationssysteme für den speziellen Gebrauch von Blinden und Sehbehinderten.

Vorläufig liefen alle diese Programme grafisch noch auf schwarz-weiss, doch die Zukunft werde auch die Erkennung von Farben und verschiedenen Lichtquellen bringen. Und denkbar sei auch, solche Programme später in Form eines Chips in Blindenbrillen (bionische Gläser) oder gar ins Auge selbst einzubauen.

Ein nützliches Virus

Noch weiter geht Balazs Rozsa: Sein Universitäts-Spinoff Femtonics kombiniert Augenheilkunde, Optik und dreidimensionale Lasertechnik mit Neurologie, also mit Sehnerven und Hirn. “Die Retina des Auges mit ihren vier Schichten ist eigentlich nichts anderes als eine Art ausgelagerter Teil des Hirns”, sagt er gegenüber swissinfo.ch .

Wenn nun die äusserste der vier Schichten dieser empfindlichen Netzhaut zerstört sei, zum Beispiel bei Retinitis pigmentosa, was Sehbehinderungen oder Blindheit auslöse, so könnten dank eines direkt ins Auge applizierten Virus eventuell die lichtempfindlichen Proteine der zweiten Schicht aktiviert werden. Damit würde ein verbessertes Sehen wieder möglich. Die Idee zu dieser Therapieform kommt aus Basel.

Zusammenarbeit mit Basler Institut

Das Basler Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research (FMI) ist in der Grundlagenforschung tätig und entwickelte eine Methode, mit Hilfe eines gentherapeutischen Virus und einem lichtempfindlichen Protein die Zapfenzellen in der Netzhaut von Patienten mit Retinitis pigmentosa zu reaktivieren.

Retinitis pigmentosa sei eine vererbte Krankheit, sagt FMI-Sprecherin Sandra Ziegler gegenüber swissinfo.ch. Sie zeige sich erst als Nachtblindheit, und könne dann in eine Einschränkung des Gesichtsfelds, den sogenannten Tunnelblick, übergehen.

“Blinde Mäuse, die mit dieser Methode behandelt wurden, zeigten in Verhaltenstests, dass sie wieder sehen konnten. Die Forschenden konnten ausserdem zeigen, dass das Protein auch in menschlichen Netzhäuten die Zellen wieder zu aktivieren vermag”, so Ziegler.

Nur brauche es weitere Sicherheitsgarantien, bevor diese Therapie bei Patienten eingesetzt werden könne. “Das Virus wird benötigt, um das lichtempfindliche Protein in der Netzhaut am richtigen Ort zu produzieren.”

Nicht-Sehende haben Kompetenzen, von denen Sehende profitieren können. Das habe sich vor einigen Jahren in Ungarn gezeigt, sagt Agnes Somorjai, Direktorin der Budapester Blindenschule.

Bei einem Einsatz seien Feuerwehrleute umgekommen, weil sie in der Dunkelheit und im Rauch des brennenden Gebäudes die Orientierung verloren und den Ausgang nicht mehr fanden.

Blinde hingegen verfügten über ein Spezialwissen, wie man sich in total dunklen Räumen zu bewegen hat.

2012 werde die Budapester Blindenschule als Weltpremiere internationale Kurse in diesem Bereich anbieten. So würden Feuerwehrleute und andere Spezialisten aus vielen Ländern erwartet.

Ungarn zählt 10 Mio. Einwohner auf eine Fläche von 93’000 Quadratkilometern.

2009 betrug die Kaufkraft im Verhältnis zum EU-Durchschnitt 65%.

Die Schweiz unterstützt Ungarn für die Jahre zwischen Ende 2007 und 2012 mit rund 131 Mio. Franken (zum Vergleich: Die EU-Fördergelder 2007/13 betragen 22,9 Mrd. Euro).

Das Schweizer Geld stammt aus dem Erweiterungsbeitrag (“Kohäsionsmilliarde”), den das Schweizer Stimmvolk 2006, zwei Jahren nach dem EU-Beitritt der neuen Länder (Mittelost-)Europas, genehmigt hat.

Die Mittel sind zur Verminderung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten bestimmt. Sie werden nicht einfach zur Verfügung gestellt, sondern gehen über ein transparentes, aber aufwändiges Auswahlverfahren in konkrete Projekte in den Bereichen Sicherheit, Stabilität, Reformen, Umwelt, Infrastruktur, Privatsektor-Förderung sowie menschliche und soziale Entwicklung.

Mindestens 40% der Mittel sollen in strukturschwache Regionen im Norden (nördliche grosse Tiefebene) und Osten eingesetzt werden.

Die Umsetzung der Projekte wird vom Schweizer Erweiterungsbeitragsbüro in Budapest begleitet. Es koordiniert seine Arbeit mit dem Ministerium für Regionale Entwicklung.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft