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Blinder Patient erhält “künstliches Auge”

Ärzte des Universitätsspitals Genf pflanzen die Netzhaut-Prothese ein.

Schweizer Ärzte haben einem blinden Patienten ein kleines elektronisches Augenimplantat eingepflanzt, das helfen soll, das Sehvermögen wieder herzustellen - eine europäische Premiere.

Das Gerät übermittelt mit einer auf eine Brille montierten Kamera visuelle Informationen an Elektroden im Auge. Dies erlaubt es dem Patienten, Licht, Umrisse und Bewegungen zu sehen.

“Es ist nah an Science Fiction”, sagt Avinoam Safran, Chef der Augenklinik am Genfer Universitätsspital, gegenüber swissinfo.

“Vor zehn Jahren hätte man sich noch nicht vorstellen können, einen solchen Grad an Technologisierung zu erreichen: Die Herstellung des Chips, die unglaubliche Miniaturisierung und die Kapazität, solch komplexes Nervengewebe in diesem Teil der Netzhaut wieder herzustellen.”

Die Netzhaut (Retina) ist eine dünne Zellschicht, die zum zentralen Nervensystem gehört. Sie liegt an der hinteren Innenseite des Augapfels und wandelt Licht in elektrische Impulse um, die das Gehirn entschlüsseln kann. Sie kann mit dem Film in einer Kamera verglichen werden.

Retina-Implantate können helfen, das Sehvermögen von Menschen teilweise wieder herzustellen. Namentlich von Patienten, die an gewissen Erbkrankheiten leiden, die zu Blindheit führen.

Dazu gehört Retinitis pigmentosa, die etwa 1,5 Millionen Menschen weltweit betrifft. Bei dieser Krankheit sterben die Zellen der Retina (Photorezeptoren) langsam ab.

In einem komplexen medizinischen Prozess wird das Implantat – eine Gruppe von 60 Elektroden einen Viertel so gross wie eine Briefmarke – mit einem Mikro-Metallstift an der Rückseite der Retina befestigt.

Hilfsmittel

Doch allein funktionieren die Elektroden nicht: Eine Kamera, montiert auf einer Brille, wird dazu benutzt, die Bilder einzufangen.

Ein kleiner Computer, der am Gürtel befestigt wird, konvertiert die visuelle Information in elektrische Signale.

Diese Informationen werden zurück an die Brille und dann weiter an einen Empfänger in Augennähe übermittelt, der diese seinerseits an die Elektroden im Auge schickt, die elektrische Impulse generieren.

Diese Impulse rufen Reaktionen in der Retina hervor, welche durch die Sehnerven zum Gehirn wandern. Dieses nimmt Muster aus Hell und Dunkel wahr, je nachdem, wie die Elektroden von den Bildern stimuliert werden. Das alles geschieht in Echtzeit.

Die grösste Schwierigkeit besteht darin, dass die Patienten lernen müssen, wie sie diese Muster in für sie sinnvolle Bilder umsetzen können.

Autonomes Sehen

Auch wenn es mit dieser Technik unwahrscheinlich ist, dass eine blinde Person ihr Sehvermögen wieder vollständig zurückerhält, wurden doch sehr rasch Fortschritte gemacht, sagt Safran.

“Wir können einer blinden Person die Möglichkeit geben, bis zu einem bestimmten Grad die visuelle Autonomie zu erhalten, so dass sie Umrisse, Dinge und Orte erkennen kann und sich einfacher in der Öffentlichkeit bewegen kann.”

Die Qualität des Sehvermögens hängt allerdings auch sehr stark vom Zustand des Auges ab und künftigen Verbesserungen der Hilfsgeräte.

Das Schweizer Ärzteteam, das die Operation Mitte Februar durchgeführt hat, wurde von Kollegen in Los Angeles und Paris unterstützt. Es war das erste Mal, dass diese Operation in Europa durchgeführt wurde; weltweit fanden bisher zehn solche Operationen statt.

Zehn Jahre

Das in Genf eingesetzte Hilfsgerät heisst Argus II und wurde von der US-Firma Second Sight entwickelt. Es kostet 30’000 Dollar (32’880 Fr.) und soll zehn Jahre lang im Auge bleiben können.

In Zukunft sollen Patienten durch weitere Verbesserungen zu noch besseren Seh-Ergebnissen gelangen. Neue Geräte mit grösserer Auflösung und mehr Elektroden sind geplant, die Techniken für das Einsetzen werden weiter vereinfacht.

“Es ist wie die Entwicklung eines Flugzeugs”, betont Safran. “Man beginnt mit einem einfachen Propellerflugzeug, und 20 Jahre später hat man einen Jet. Viele Dinge können verbessert werden – durch technische Entwicklung und Erfahrungen, die mit älteren Generationen von Apparaten gemacht wurden.”

swissinfo, Simon Bradley, Genf
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

Der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen schätzt, dass in der Schweiz zwischen 80’000 und 100’000 Personen sehbehindert sind.

Die Anzahl der Menschen, die von Blinden-Organisationen betreut werden, liegt vermutlich zwischen 10’000 und 20’000. Etwa 10% davon sind blind.

Eine Studie der Universität St. Gallen zeigt, dass in der Gruppe unter 44 weniger Sehbehinderte sind als in der restlichen Bevölkerung. Untersuchungen der verschiedenen Organisationen haben gezeigt, dass 8-10% der Sehbehinderten über 74 Jahre alt sind.

Hauptgrund für eine Sehbehinderung ist der natürliche Alterungsprozess. Im Fall der so genannten altersbedingten Makula-Degeneration nimmt die Sicht im Zentrum des Sehfeldes ab, was das Lesen schwierig oder unmöglich macht; doch totale Blindheit muss nicht befürchtet werden.

Andere Gründe für Sehbehinderungen sind Unfälle oder Krankheiten wie Diabetes, grauer Star, Netzhaut-Krankheiten und erblich bedingte Umstände.

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