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Über den Dächern der Stadt für ein liberales Ägypten

Der ägyptisch-schweizerische Kopte Ezzat Boulos hofft auf die liberalen Kräfte in Ägypten. swissinfo.ch

Der Kampf um Ägyptens Zukunft findet nicht nur auf dem Kairoer Tahrirplatz statt. In der Redaktion der Online-Zeitung "Copts United" schreiben und debattieren rund 40 Journalisten für ein liberales Ägypten. Chefredaktor ist ein ägyptisch-schweizerischer Kopte.

Eine halbe Stunde Fahrzeit von den Sirenen der Ambulanzen und dem beissenden Tränengas entfernt deutet vorerst nichts auf die Revolution hin. Die Redaktionsräume von Copts United in Kairo befinden sich zuoberst in einem fünfstöckigen Gebäude in Maadi, einem ruhigen Viertel der unruhigen 20-Millionenstadt.

Stolz öffnet Ezzat Boulos die Tür zu einem schalldichten Raum, wo drei Kameras auf einen Glastisch und zwei Sessel gerichtet sind: “Das ist unser Fernsehstudio”, sagt der Chefredaktor. “Hier senden wir vier Mal in der Woche Live-Diskussionen, die man auf unserer Website mitverfolgen kann.”

Multimediales Projekt

Was im Jahr 2004 als bescheidene Online-Zeitung begann, die einmal wöchentlich über die Anliegen der Kopten, der christlichen Minderheit in Ägypten, berichtete, ist heute ein multimediales Projekt. Es wird von rund 40 freien Journalisten laufend aktualisiert.

Ezzat Boulos ist gelernter Elektroingenieur und hat sich schon immer für Medien und Politik interessiert. Während seines Studiums ist er vor 35 Jahren für ein Praktikum in die Schweiz gekommen und hängen geblieben. Heute pendelt der 62-Jährige zwischen Ägypten und der Schweiz. Er ist mit einer Schweizerin verheiratet und hat vier erwachsene Kinder.

Eine Tochter lebt inzwischen in Kairo und demonstriert dieser Tage auf dem Tahrirplatz gegen die Militärjunta. “Ich habe zwar Angst um meine Tochter, aber gleichzeitig freut es mich, dass die jungen Leute, welche die Revolution am 25. Januar angestossen haben, jetzt weitermachen”, sagt er. Seine Arbeit als Consultant in der Schweiz hat er nun auf Eis gelegt, um sich ganz dem Multimediaprojekt Copts United zu widmen.

Furcht vor radikalen Islamisten

Als Kopte gehört Ezzat Boulos zur christlichen Minderheit in Ägypten, die ein Erstarken der radikalen islamistischen Kräfte befürchtet. “Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung einen islamischen Staat will”, sagt Boulos. “Aber die Muslimbrüder sind gut organisiert und haben viel Erfahrung mit Wahlen aus der Mubarak-Zeit. Sie gehen direkt nach dem Morgengebet um vier Uhr von den Moscheen zu den Wahllokalen und blockieren sie.”

Sie könnten immer noch zahlreiche Menschen mobilisieren, hätten allerdings an Glaubwürdigkeit verloren wegen ihrer Taktik, sich mal mit der Protestbewegung zu solidarisieren, dann wieder dem Militärrat zu folgen. Der Kopte traut den Brüdern nicht. Er setzt auf liberale Kräfte, Kopten wie Muslime. “Wir brauchen keine koptische Partei, ich bin überhaupt gegen religiös definierte Parteien und Programme”, sagt Boulos und ergänzt, dass koptische Kandidaten heute keine Chance hätten, gewählt zu werden.

Falscher Zeitpunkt für Wahlen

Wegen der anhaltenden Massenproteste in Kairos Innenstadt gegen den herrschenden Militärrat scheint die Durchführung der für den 28. November geplanten Parlamentswahlen zweifelhaft. Die Armeeführung hält an diesem Fahrplan fest, doch Ezzat Boulos meint, dass jetzt der falsche Zeitpunkt für Wahlen sei: “Die Sicherheit ist nicht gewährleistet, wir haben keine funktionierende Polizei. Kopten und liberale Frauen, die kein Kopftuch tragen, haben Angst, zu den Wahllokalen zu gehen.” Er plädiert für eine Verschiebung um einige Wochen.

Christliche Gemeinschaften und Kirchen wurden schon früher angefeindet, doch in den letzten Monaten sei die Situation noch schlimmer geworden, sagt Boulos: “Während der Mubarak-Zeit hat die Polizei zuerst einige Stunden zugeschaut, wenn Muslime Christen attackierten, bevor sie eingriff. Doch heute greift die Polizei überhaupt nicht mehr ein.”

Hoffnung auf liberale Kräfte

Trotz grosser Besorgnis über die herrschende Gewalt hofft der ägyptisch-schweizerische Doppelbürger, dass sich bei den Wahlen die liberalen Kräfte durchsetzen können. Immerhin habe die Revolution bei weiten Kreisen der Bevölkerung eine starke Politisierung bewirkt: “In der Metro wurde früher fast ausschliesslich über Fussball diskutiert. Heute ist die Politik das Thema Nummer Eins, und das ist neu für Ägypten. Viele Leute glauben jetzt daran, dass sie etwas bewegen können.”

Auch auf der Dachterrasse des Redaktionsgebäudes in Maadi, wo der Blick über Villen, Wohnblocks und graue Wolkenkratzer schweift, wird regelmässig politisiert. Hier informiert Copts United mit Vorträgen und Seminaren über Menschen- und Bürgerrechte, über Anliegen der koptischen Religionsgemeinschaft und die Wichtigkeit, dass sich liberale Kopten und Muslime an den Wahlen beteiligen, um das Feld nicht den radikalen Islamisten zu überlassen.

Die Kopten sind die Ureinwohner Ägyptens. Die koptische Kirche geht auf das alexandrinisch-ägyptische Christentum der Spätantike zurück.

Bis zum 7. Jahrhundert bekannten sich immer mehr Ägypter zum koptischen Glauben. Danach wurde die weitere Ausbreitung des Christentums durch die Islamisierung Ägyptens gebremst. Die Mehrheit gehört der koptisch-orthodoxen Kirche an, die einen eigenen  Papst zum Oberhaupt hat.

Rund zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung sind Kopten.

In der Vergangenheit gab es wiederholt Anschläge auf koptische Kirchen und Institutionen. Am 9. Oktober kam es während einer Demonstration in Kairo zu einem Massaker, bei dem 27 Kopten getötet wurden.

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