Familien der Zukunft
Sowohl in ihrem Herkunftsland Schweiz wie in ihrer Wahlheimat England liegt die Scheidungsrate über 50%. "Wird der Eineltern-Haushalt bald zur Norm, oder eher die Patchwork-Familie?", fragt die Schriftstellerin Zoë Jenny, die bei ihrem alleinerziehenden Vater aufgewachsen ist.
«Um ein Kind aufzuziehen, benötigt es ein ganzes Dorf». Dieser alten afrikanischen Weisheit würde wohl kein Psychologe widersprechen, spiegelt sich darin doch die Tatsache, dass das Aufziehen eines Kindes enorme Energien benötigt, die von einem einzigen Menschen allein kaum aufzubringen sind.
Heute ist das «Dorf» im besten Fall durch ein Netzwerk von Tagesstätte, Kinderhort, Familie und Freunden ersetzt. Trotzdem gibt es oft einen Mangel an Hilfe, und viele Eltern sehen sich in dem Balanceakt zwischen Beruf und Kindererziehung überfordert. Ganz besonders in einer Zeit, in der die Zahl der Einelternfamilien rapide zunimmt.
Allein in der Schweiz leben heute 400’000 Kinder in einer Einelternfamilie. Dabei handelt es sich vor allem um alleinerziehende Mütter. Obwohl die Zahl alleinerziehender Väter inzwischen zugenommen hat, sind es immer noch mehrheitlich die Mütter, die für die Kindererziehung verantwortlich sind – oft unter schwierigen finanziellen Umständen. Alleinerziehende sind sozial fragil und oft erheblich benachteiligt.
In den 80er-Jahren waren alleinerziehende Väter eine ausserordentliche Seltenheit, ja eine Kuriosität. Als ein Kind, das bei seinem Vater aufgewachsen ist, erinnere ich mich nur zu gut an die Verwunderung, mit der mich andere Kinder aber auch deren Eltern anstarrten, wenn sie erfuhren, dass ich bei meinem Vater lebe.
Wenig Hoffnung auf Ünterstützung
Niemand, den ich kannte, war in derselben Situation. Damals waren alleinerziehende Väter entweder verpönt oder bemitleidet aber kaum ernst genommen. Alleinerziehende Väter sind immer noch stark in der Minderheit, aber ein Kind, das heutzutage alleine bei seinem Vater aufwächst, hat immerhin eine Chance, andere Kinder in der gleichen Situation kennenzulernen und daher die Möglichkeit, seine Erfahrungen zu teilen.
In dem 1979 entstandenen Film «Kramer gegen Kramer» sieht sich ein Vater, gespielt von Dustin Hoffmann, von einem Tag auf den anderen mit seinem kleinen Sohn auf sich gestellt, als ihn seine Frau, die in einer tiefen Identitätskrise steckt, plötzlich verlässt. Sein Leben wird ein täglicher Kampf, alles auf die Reihe zu kriegen. Der relativ realitätsnahe Film – inzwischen ein Klassiker des Scheidungsdramas – reflektierte auf beeindruckende Weise den Zusammenbruch der traditionellen Familienkonstellation. Es war eine Zeit, in der alleinerziehende Eltern, weder Mütter noch Väter, wenig Hoffnung auf gesellschaftliche Unterstützung hatten.
Die Patchworkfamilie
Doch wenn die Scheidungsraten weiterhin derart drastisch zunehmen (in der Schweiz und England liegt die Scheidungsrate bei rund 50% Prozent, Tendenz steigend) wird der Eineltern-Haushalt zur Norm. Ein direktes Resultat unseres scheidungsfreudigen Zeitalters ist die «Patchworkfamilie», in der Kinder aus geschiedenen Ehen in neue hineingebracht werden.
Neuer ist eine Familienform, die in dem kürzlich in den Kinos angelaufenen Film «The Kids Are All Right» dargestellt wird. Darin geht es um ein lesbisches Paar mit zwei durch Samenspenden erzeugten Kindern. Homo-Ehen mit Kindern sind noch immer umstritten, obwohl zahlreiche Studien belegen, dass Kinder, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen, in ihrer Entwicklung nicht benachteiligt sind.
Juliane Moore, die in dem Film eine der lesbischen Mütter spielt, erklärte in einem Fernseh-Interview mit der BBC, dass es wichtig sei, zwei Eltern zu haben – aber ob dies nun zwei Mütter oder Väter seien, sei dabei weniger ausschlaggebend. Jeder Fall ist wohl individuell zu beurteilen, aber sicher ist, dass Kinder Bezugspersonen brauchen, auf die sie sich verlassen können. Es kommt vor allem auf die Qualität der Beziehung an und ob ein Kind Sicherheit und Geborgenheit erfährt.
Liebevoller Umgang
Aus psychologischer Sicht unbestritten ist auch, dass ein Kind in einer traditionellen Familie, in der dauernd gestritten wird und eine unglückliche Stimmung herrscht, sich vermutlich schlechter entwickelt, als wenn es bei zwei Eltern aufwächst, die liebevoll miteinander umgehen – egal ob es sich dabei um zwei Väter oder zwei Mütter handelt. Erst die Zukunft wird zeigen, wie sich Kinder aus solchen Familien in der Gesellschaft integrieren, die immer noch eine traditionelle Familienform favorisiert – auch wenn diese schon seit längerem am zerbröckeln ist. Familienkonstellationen waren schon immer enormen sozialen und gesellschaftlichen Wandlungen unterworfen, doch in Zukunft werden wir uns wohl noch an sehr viel mehr Varianten gewöhnen müssen.
Die Neugier zieht immer wieder Schweizer Autoren in die weite Welt hinaus.
Mit leichter Feder bringen sie uns Fremdes näher.
swissinfo.ch hat bekannte und weniger bekannte Autorinnen und Autoren eingeladen, über ihre Beobachtungen in der Wahlheimat zu berichten.
Geboren in Basel, aufgewachsen in Basel, Griechenland und Carona (Tessin)
Seit 1993 werden ihre Kurzgeschichten in Literatur-Zeitschriften in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich veröffentlicht.
Bekannt wurde Zoë Jenny mit ihrem mehrfach ausgezeichneten Romanerstling «Das Blütenstaubzimmer» (1997). der in 27 Sprachen übersetzt wurde.
Seit 2003 lebt Zoë Jenny in London zusammen mit ihrem Partner, dem Tierarzt Matthew Homfray; im Juli 2008 haben sie in St. Moritz geheiratet. Das Paar hat eine gemeinsame Tochter.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch