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Buchstäblich überfordert

Nicht allen Menschen sind Buchstaben bekömmlich. swissinfo.ch

Viele Jugendliche und Erwachsene haben Mühe mit Lesen und Schreiben. Eine Tagung in Aarau hat sich mit diesem gesellschaftlichen Phänomen befasst.

Fachleute fordern eine bessere nationale Vernetzung bei der Bekämpfung des so genannten Illettrismus.

Die vor kurzem vorgestellte ALL-Studie (Adult Literacy and Lifeskills Survey) hat es gezeigt: 16% der Erwachsenen in der Schweiz haben Mühe, einen Text richtig zu lesen und zu verstehen.

“Die Schweiz hat sehr mittelmässig abgeschnitten – optimistisch ausgedrückt”, sagt Philipp Notter vom Kompetenzzentrum für Bildungsevaluation und Leistungsmessung der Universität Zürich vor 200 Fachexperten in Aarau.

Dass es viele Erwachsene gibt, die den Umgang mit Lesen und Schreiben nicht beherrschen, obwohl sie die obligatorische Schulzeit absolviert haben, ist seit längerem bekannt.

“Bis vor etwa 10 Jahren wurde das Problem heruntergespielt und auf die Migranten reduziert”, erklärt Pier-Angelo Neri, Präsident des Komitees zur Bekämpfung des Illetrismus der Schweizerischen UNESCO-Kommission gegenüber swissinfo.

Studien der letzten Jahre hätten jedoch klar gemacht, dass es sich nicht um Einzelfälle, sondern um ein gesellschaftliches Problem handle, das angegangen werden müsse. Gehandelt wurde bislang kaum.

Politischer Wille fehlt

“Illettristen stellen kein Wählerpotential dar! Sie sind ausgeschlossen oder schliessen sich selber aus und sind deshalb für die Politiker nicht interessant”, bemerkt Stefan Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung

Die Experten sind sich einig, dass die Schweiz – im Vergleich zum Beispiel mit Frankreich und Deutschland – von einer nationalen Politik zur Bekämpfung des Illettrismus weit entfernt ist. Es müsse nun endlich gehandelt werden, und zwar auf allen Ebenen.

Dass die Schweiz in Studien investiert, findet Pier-Angelo Neri positiv. Wenn es jedoch darum gehe, zu handeln, fehlten die Ressourcen.

Ähnlich sieht es Elisabeth Derisiotis. Sie ist seit 12 Jahren Präsidentin von Lesen und Schreiben für Erwachsene, einer Institution, die in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feiert.

“Wir bekämpfen Symptome und machen nur kleine Schritte. Die Situation stagniert. Jetzt müssen endlich die Politiker aktiv werden.”

Studien genügen nicht

Studien seien gut und recht, aber “wenn man sich damit begnügt, ständig nur Studien zu erstellen, um dann jahrelang auf die Resultate zu warten, die mit kleinen Abweichungen dasselbe sagen wie die Vorstudie, dann werde ich ungeduldig”.

Sie würde eine Verlagerung der Gelder begrüssen, damit die von Illettrismus Betroffenen besser erreicht werden könnten. Denn das sei das grösste Problem. Am effizientesten, so Derisiotis, wäre eine langfristige Werbekampagne über die audiovisuellen Medien, ähnlich der Aids-Kampagne. “Dafür aber fehlt das Geld.”

Als Massnahmen nennt Pier-Angelo Neri die vier Pfeiler Sensibilisierung, Prävention sowie Bildung und Forschung.

Defizite haben vielschichtige Gründe

Mit zunehmendem Alter nehmen die Lese- und Schreibkompetenzen ab, bei Migranten und Frauen sind sie tiefer als bei Männern.

“Die Schweiz ist das einzige Land, in dem die Frauen auf allen Gebieten schlechter abschneiden als die Männer, das ist alarmierend”, erklärt Jacqueline Lurin, Bildungsforscherin des Kantons Genf.

Für Christine Zumstein, Direktorin der Volkshochschule Bern, steht das schlechte Abschneiden der Frauen mit der Gleichstellungsfrage in Zusammenhang. “Es fehlt an Tagesschulen, und mit dem Abschiednehmen aus dem Berufsleben nehmen häufig die Kompetenzen ab.”

Auch Elisabeth Derisiotis bemängelt die ausserschulische Betreuung: “Auf diesem Gebiet ist die Schweiz ein Entwicklungsland.”

Entscheidende Faktoren sind der Beruf, die Familienverhältnisse, der Ausbildungsstatus der Eltern, aber auch die Zufriedenheit mit dem Leben überhaupt.

Weitere Gründe sieht Pier-Angelo Neri in der Lehrlings-Ausbildung, die nicht immer dem Rhythmus der Lehrlinge entspreche. Viele Junge beherrschten zwar Lesen und Schreiben, aber “sie verstehen nicht, was sie lesen”.

Illettrismus spaltet die Gesellschaft

Der Illettrismus ist ein komplexes Problem mit vielen Unbekannten. So weiss man nicht, wie hoch die Kosten sind, die der Wirtschaft zum Beispiel durch Arbeitsunfälle und Fehlleistungen mit schlecht qualifiziertem Personal sowie durch Folgekosten entstehen.

Unbekannt ist auch, wie viel eine langfristige und effiziente Bekämpfung kosten würde, mit Sensibilisierungs-Kampagnen, besseren Netzwerken, Ausbildung der Lehrkräfte und anderen Massnahmen.

Der Schaden, der durch Illettrismus entsteht, ist aber nicht nur finanzieller Art, sondern hat auch gesellschaftliche Dimensionen: Ein erheblicher Teil der Bevölkerung könne sich nicht an den demokratischen Entscheidungen im Land beteiligen und nicht kritisch mit Informationen umgehen, betont Pier-Angelo Neri. “Das verschärft die sozialen Gräben und bedroht den sozialen Zusammenhalt.”

Die Tagungsteilnehmer waren sich einig, dass das Problem breiter wahrgenommen werden muss. Elisabeth Derisiotis: “Wir müssen raus aus dem internen Zirkel!”

swissinfo, Gaby Ochsenbein, Aarau

Die Illettrismus-Tagung am 1. Juni in Aarau wurde vom Bundesamt für Kultur, dem Bundesamt für Statistik sowie vom Zentrum Lesen der Pädagogischen Hochschule Aargau durchgeführt.
Die ALL-Studie zeigt, dass rund 16% der Erwachsenen in der Schweiz Mühe mit Lesen und Schreiben haben.
Die Daten stammen aus 5120 Interviews, die 2003 bei Erwachsenen zwischen 16 und 65 Jahren durchgeführt wurden.
Teilgenommen haben sechs Länder: Schweiz, Norwegen, Italien, Kanada, USA und die Bermudas.

Der Begriff Illettrismus bezeichnet die Unfähigkeit, Lese- und Schreibfertigkeiten adäquat anzuwenden.

Literalität (Literacy) ist die Fähigkeit, gedruckte oder geschriebene Informationen nutzen zu können, um in der Gesellschaft zurecht zu kommen und sein Potential und Wissen zu entwickeln.

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