«Der Westen hat Angst vor dem syrischen Pulverfass»
Der syrische Herrscher Baschar al-Assad versucht, die Proteste im Land mit Gewalt zu beenden. Dies vor den Augen der Westmächte, die sich vor einer Destabilisierung der Region fürchten, sagt Lorenzo Suarez, der von einem längeren Aufenthalt aus Syrien zurückgekehrt ist.
Die beispiellosen Proteste und die zunehmende Repression, die Syrien erschüttern, haben nach Angaben der Opposition bereits gegen 400 Tote gefordert.
Reagierte die internationale Gemeinschaft relativ schnell mit Sanktionen auf die Unterdrückung des Volksaufstandes in Libyen, zeigt sie sich zögerlich gegenüber dem Regime in Syrien und diskutiert kaum über mögliche Sanktionen. Hat der Westen Angst, das Regime von Baschar al-Assad zu schwächen und damit die ganze Region zu destabilisieren?
Dieser Ansicht ist jedenfalls der Genfer Lorenzo Suarez, der am 20. März von einem dreieinhalbjährigen Aufenthalt in Syrien zurückgekehrt ist.
swissinfo.ch: Haben Sie während der drei Jahre in Syrien die Voraussetzungen für die Proteste gegenüber dem Regime vor Ort gespürt?
Lorenzo Suarez: Nie hätte ich mir vorstellen können, dass sich die Ereignisse so entwickeln könnten. Noch während der ersten Revolten in Tunesien und Ägypten hätte niemand aus meinem Umfeld je in Betracht gezogen, dass die Proteste auch Damaskus erreichen könnten.
In der Bevölkerung, auch bei den Jungen, war Baschar al-Assad gut angesehen. Die Syrer formulierten es so: Baschar al-Assad ist ein Reformist mit guten Absichten, aber umgeben von einer alten Militärgarde und einem Haufen von seinem Vater geerbten Belehrungen, der Quelle allen Übels.
Heute verlangt eine zunehmende Zahl von Syrern einen Wechsel an der Spitze des Regimes – und nicht nur im Umfeld des Präsidenten. Das ist ein neues Element.
swissinfo.ch: Wie muss man sich das Ausmass, das die Protestbewegung erreicht hat, erklären?
L.S.: Zu Beginn hat man auf die Bedeutung der sozialen Netzwerke wie Facebook und Twitter hingewiesen. Aber die Aufständischen auf Internet repräsentierten tatsächlich nur eine begrenzte Zahl der Leute. Die Zunahme der Revolte ist eine Antwort auf die Morde des Regimes.
Man beteiligt sich an einer Spirale «Repression-Manifestationen», die sich eher von der durch das Regime verübten Gewalt gegen die Proteste nährte als von rationalen Argumenten der Opposition. In einer Region, in der die religiösen Identitäten noch sehr wichtig sind, können die Emotionen schnell die Oberhand gewinnen. Das Regime spielte mit dem Feuer.
swissinfo.ch: Hat man die Gewaltbereitschaft des syrischen Regimes unterschätzt?
L.S.: Die gegenwärtige Repression ist selbstverständlich völlig inakzeptabel, aber man sollte dennoch die Proportionen bewahren. Der Staat ist nicht im Begriff, systematische Angriffe gegenüber tausenden Zivilisten zu verüben. Er setzt eher auf Morde und gezielte Verhaftungen, in der Hoffnung, so die Bewegung einzuschüchtern und zu ersticken.
Im Westen hat sich nie jemand Illusionen über das Regime von Baschar al-Assad gemacht. Gegenüber seinem Vater Hafez al-Assad hat er sich nicht fundamental geändert, auch wenn sich im Laufe der Zeit eine moderatere Tendenz abgezeichnet hat. Die grösste Überraschung kommt nicht vom Verhalten des Regimes, aber vom Aufflammen und der raschen Entwicklung der Protestbewegung selber.
swissinfo.ch: Könnten diese Proteste zu Konfrontationen innerhalb der Gemeinschaft führen?
L.S.: Ja, ich bin sehr besorgt. Syrien ist ein Mosaik von Gemeinschaften und Religionen, wie im benachbarten Irak. Die historische Erfahrung lässt befürchten, dass dort ein neues Pulverfass entstehen könnte. Auch wenn Touristen und gewisse westliche Beobachter, die sich über das heutige Syrien äussern, manchmal die Neigung haben, den Staat als stabil und sicher mit einer grossen Harmonie unter den Gemeinschaften zu idealisieren, sind die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften doch angespannter, als man denken könnte.
Den Alawiten, die an der Macht sind, wird häufig mit Recht vorgeworfen, sich staatliche und privatwirtschaftliche Mittel unrechtsmässig angeeignet zu haben. Das Risiko der Radikalisierung, genährt von Ressentiments und Misstrauen, ist eine Realität.
swissinfo.ch: Könnte das Regime von Baschar al-Assad stürzen?
L.S.: Es ist natürlich alles möglich, wie man in Tunesien, Ägypten und Libyen gesehen hat. Ich glaube aber, dieses Szenario ist noch sehr weit weg. Die Zahl der Aufständischen ist noch relativ klein, und die wichtigen Organe des Staatsapparats sind noch bei weitem nicht gefährdet.
Zweitens hat die Protestbewegung kein politisches Projekt, welches eine Mehrheit der Bevölkerung vereinen könnte. Und zudem sollte man die geopolitischen Faktoren in der Region nicht unterschätzen. Die einflussreichen Kräfte in Syrien und den Nachbarländern scheinen nicht bereit zu sein, das Risiko einer Intervention einzugehen, die zu einem neuen Bürgerkrieg inmitten einer schon jetzt sehr instabilen Region führen könnte.
Die EU will am Freitag über die Lage in Syrien beraten. In der Debatte um Sanktionen seien «alle Optionen auf dem Tisch», sagte der Sprecher der EU-Chefdiplomatin Catherine Ashton in Brüssel.
Dem Vernehmen nach geht es um Reisebeschränkungen für Verantwortliche des Regimes oder das Einfrieren von Vermögenswerten.
Ebenfalls für Freitag kündigte der UNO-Menschenrechtsrat eine Sondersitzung in Genf an. Den Antrag für die Sitzung hatten die USA gestellt. Die Schweiz unterstützt den Antrag.
Quelle: SDA
Die politischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Syrien sind gut, jedoch nicht sehr intensiv.
Der Handelsaustausch ist bescheiden, auch wenn er in den letzten paar Jahren gewachsen ist.
Die Schweiz exportiert vor allem Maschinen sowie pharmazeutische und chemische Produkte.
Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) betreibt in Damaskus seit 2005 ein regionales Kooperationsbüro.
Syrien ist am Regionalprojekt «Mashreq» der Deza beteiligt. Das Programm bezieht sich auf gute Regierungsführung, Förderung von Arbeitsplätzen und Umweltfragen.
Die Humanitäre Hilfe der Schweiz kommt Palästinaflüchtlinge in den syrischen Lagern zugute.
In Syrien lebten 2009 196 Schweizer, davon 148 Doppelbürger.
In der Schweiz lebten 2009 1023 syrische Staatsangehörige.
(Übertragen aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)
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