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Frau Bundespräsidentin lässt niemanden kalt

Keystone

Als zweite Frau in der Schweizer Geschichte, die Bundespräsidentin wird, kann Micheline Calmy-Rey auf ihre grosse Popularität in der Bevölkerung und den Medien setzen.

Ihre Positionen und die “öffentliche Diplomatie” provozieren jedoch nicht wenig Widerstand im Parlament. “Mutig und unabhängig”, sagen die einen, “stur und egozentrisch” die andern.

Für Donnerstag Abend hat die Stadt Genf einen grossen Empfang geplant, um “ihre” bereits zweite Bundespräsidentin zu feiern.

Vor Micheline Calmy-Rey hatte erst Ruth Dreifuss diese Spitzenfunktion inne. Das war 1999. Somit ist die zweite Bundespräsidentin in der Schweizer Geschichte erneut eine Genfer Sozialdemokratin.

Zur grossen Freude ihrer Parteikollegin Liliane Maury-Pasquier. “Micheline Calmy-Rey wird die Standarte der sozialdemokratischen Frauen in der Politik hoch tragen. Sie steht für eine engagierte Schweiz, welche die Menschenrechte in der Welt verteidigt”, erklärt die Genfer Nationalrätin.

Die Menschenrechte hat sich Calmy-Rey auf ihre Fahne geschrieben, als sie 2003 Aussenministerin der Schweiz wurde. Kaum gewählt, verlangte sie anlässlich des Weltwirtschafts-Forums in Davos ein Treffen mit dem damaligen US-Aussenminister Colin Powell, dessen Land sich auf die Invasion Iraks vorbereitete.

Und nach dessen Zurückweisung der vorgeschlagenen “Verhandlungen der letzten Chance” berief sie eine humanitäre Konferenz ein, um zu versuchen, den Schock des Krieges abzudämpfen.

Kein Blatt vor dem Mund

Die “öffentliche Diplomatie” von Micheline Calmy-Rey hat der Schweiz eine starke Sichtbarkeit im Ausland gebracht.

Die Vorsteherin des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat sich in diesem Zusammenhang für eine “formelle Unabhängigkeit” des Kosovo ausgesprochen und sich stark für die Schaffung des UNO-Menschenrechts-Rats eingesetzt.

Auch für die Genfer Initiative hat sie sich stark gemacht, den alternativen Friedensplan für den Nahen Osten, der gegenwärtig auf Eis gelegt ist.

Kürzlich erst hatte sie, die oft am Unilateralismus der US-Aussenpolitik gekratzt hat, öffentlich die “unverhältnismässigen” israelischen Angriffe auf den Libanon und den Gazastreifen kritisiert. Und sie fordert die Kandidatur der Schweiz für den UNO-Sicherheitsrat.

Dieser Freimut, diese klaren Positionen und einige Überraschungscoups – wie die Überschreitung der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea – haben Calmy-Rey zum “Liebling” der Medien und zur beliebtesten Bundesrätin unter den gegenwärtigen sieben Ministern gemacht.

Aktive Neutralität

Doch dieser Stil gefällt nicht allen. Kritik kommt namentlich aus der bürgerlichen Ecke, hauptsächlich von der Schweizerischen Volkspartei (SVP).

Die rechtsbürgerliche Partei prangert ihren “Aktivismus” an, der gegen die Neutralität der Schweiz gerichtet sei. Vor einigen Tagen hat Parteipräsident Ueli Maurer gefordert, dass sie ihr Aussendepartement abgeben solle.

“Man muss zwei Sachen auseinanderhalten”, betont SVP-Nationalrat Luzi Stamm, Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, der grossen Kammer des Schweizer Parlaments.

“Einerseits ist sie als Person sehr liebenswürdig, positiv, offen, schwer zu kritisieren. Andererseits ist ihre Politik, diese Idee der ‘öffentlichen Diplomatie’, der Neutralität der Schweiz sehr abträglich”, so Stamm. “Wenn wir so weiterfahren, verlieren wir den Ruf als neutrales Land.”

Eine “statische” Vision der Neutralität, welche die Chefin der Schweizer Diplomatie mit einer Handbewegung vom Tisch wischt. “Wer schweigt, wenn unschuldige Zivilisten zum Spielball militärischer Aktionen werden oder wer sich nicht gegen den Terror auflehnt, ist nicht neutral, sondern einverstanden”, sagt sie immer wieder.

Für Stamm ist Micheline Calmy-Rey, wie vor ihr Bundesrat Adolf Ogi oder in den USA Bill Clinton, eine dieser politischen Personen, “die in der öffentlichen Meinung dermassen sympathisch erscheinen, dass man deren Politik automatisch positiv einschätzt. Nun sollten wir aber lernen, die Person und ihre Taten zu unterscheiden”.

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Bundespräsidentin

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Bundespräsidentin (oder der Bundespräsident) wird jedes Jahr aus der Mitte der Schweizer Landesregierung (Bundesrat, Exekutive) gewählt, die sieben Mitglieder zählt. Sie gilt in dieser Zeit als Primus inter pares, das heisst Erste unter Gleichgestellten, und leitet die Bundesratssitzungen. Das Amt ist repräsentativ und nicht mit zusätzlicher Macht verbunden.

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Aktion oder Promotion?

Bleibt anzumerken, dass die Über-Mediatisierung der kleinsten Aktion der Aussenministerin ärgern kann. Man kann sich daher fragen, ob es sich wirklich immer um reale Aktionen handelt oder nicht manchmal auch um PR-Aktionen.

Für Maury-Pasquier ist die Antwort klar: “Ihre Aktionen sind real. Doch man muss bescheiden bleiben, die Schweiz ist ein kleines Land. Sie hat durch ihre Neutralität gewisse Vorteile, die Micheline Calmy-Rey benutzt, besonders wenn es darum geht, Konflikte zu lösen oder die Menschenrechte zu verteidigen.”

Dies sei die Rolle der Schweiz, “und ich denke, dass sie diese gut ausfüllt”, betont die Nationalrätin. Denn die neugewählte Bundespräsidentin sei “nicht nur eine Frau des Kopfes, sondern auch eine Frau der Tat”.

swissinfo, Marc-André Misérez
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

Micheline Calmy-Rey wurde am 8. Juli 1945 im Wallis, geboren. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder.

Sie studierte Politikwissenschaften an der Universität Genf. Während 20 Jahren führte sie einen Buchvertrieb.

1979 trat sie der Sozialdemokratischen Partei (SP) Genf bei. In den Jahren 1986 bis 1970 und 1993 bis 1997 war sie deren Präsidentin.

1981 wurde sie in den Genfer Kantonsrat gewählt.

1998 wurde sie in die Genfer Kantonsregierung gewählt. Dort übernahm sie das Finanzdepartement.

Am 4. Dezember 2002 wurde sie als Nachfolgerin von Ruth Dreifuss in den Bundesrat gewählt.

Als Vorsteherin des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) versucht sie, der Schweizer Diplomatie wieder mehr Öffentlichkeit und internationales Gehör zu verleihen.

Sie profiliert sich als resolute Verfechterin der Menschenrechte und einer aktiven Neutralität.

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