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Demokratie-Crashkurs für die Fünfte Schweiz

Grenzen in Köpfen und auf Landkarten können die Menschen nicht trennen, auch dann nicht, wenn einige bei uns mit Eifer das Trennende hervorheben wollen", sagt Bundesrätin Doris Leuthard in Lugano. swissinfo.ch

Der Auslandschweizer-Kongress in Lugano stand ganz im Zeichen der direkten Demokratie. Ein wichtiges Thema im Wahljahr. Bundesrätin Doris Leuthard äusserte sich vor allem zu ökonomischen Fragen, bezeichnete aber die Auslandschweizer als Visitenkarte des Landes.

Bildungs-, Verkehrs- und Umweltministerin Doris Leuthard unterstrich in Lugano die wichtige Rolle der Fünften Schweiz in der Politik des Bundes: “Sie sind Teil der Schweiz, Sie sind eine Visitenkarte, die wir pflegen wollen”, wandte sie sich an die rund 250 Delegierten.

Die Schweiz sei zwar ein kleines Land, aber “wir haben mit unseren Auslandschweizerinnen und –schweizern eine einmalige Gelegenheit, diese Kleinheit zu vergrössern, indem alle in ihrer neuen Heimat für die Schweiz Werbung machen”, sagte sie gegenüber swissinfo.ch.

Sie machte auch darauf aufmerksam, dass der Bundesrat dabei sei, eine konsularische Telefonhotline einzurichten, die ab dem 24. Januar 2012 im 24-Stunden Betrieb zur Verfügung stehen soll. Weiter machte sie den Delegierten Hoffnung, dass das für die Auslandschweizer so wichtige E-Voting mittelfristig breiter eingeführt werde.

Sonst konzentrierte sich Leuthard auf die globalen Wirtschaftsprobleme und die Auswirkungen auf den starken Schweizer Franken und die Wirtschaft des Landes, die von der Export- und der Tourismusindustrie wesentlich geprägt ist.

Was ist direkte Demokratie?

“Wie kann ein Ausländer verstehen, dass der Bundesrat aus 7 gleichwertigen Personen besteht, welche kollegial entscheiden? Dass diese 7 Personen für vier Jahre fest gewählt sind und während dieser Zeit von niemandem abgewählt werden können? Wie kann er verstehen, dass die an der Regierung beteiligten Parteien ohne eigentliches Koalitionsprogramm zusammen regieren und trotzdem jede Partei frei ist, Regierungsentscheide mitzutragen oder zu bekämpfen?”, fragte der ehemalige Bundesratssprecher und Vizekanzler Achille Casanova die versammelten Auslandschweizerinnen und –schweizer.

Demokratie und Konkordanz sei historisch begründet, sagte er. “Unsere Vorfahren hatten schon immer eine Abneigung gegenüber allzu grosser Machtfülle in einer Hand.” Sogar die Stärkung des Bundespräsidenten hätte Mühe, sich durchzusetzen.

“Subtile Machtverteilung ist das Schlüsselwort, um die Schweiz zu verstehen”, so Casanova. “Und dann will das Volk das letzte Wort haben.” Die direkte Demokratie sei nicht die einzige Form einer Demokratie. Aber sie habe den Vorteil, dass der ständige Dialog zwischen Volk und Regierung durchgeführt werden müsse.

“Konkordanz ist ein geniales Instrument, um Konflikte zu lösen in einem Land mit verschiedenen Kulturen und Sprachen.”

Casanova forderte die Auslandschweizer auf, sich auf die Werte zurückzubesinnen, die die Schweiz stark gemacht hätten. “Diese Stärke misst sich am Wohl der Schwachen, Respekt gegenüber anderen Kulturen und Religionen. Leider sind solche Werte heute nicht mehr so aktuell”, bedauerte er.

Wer hat sie erfunden, die Demokratie?

“Die Schweizer haben die Demokratie nicht erfunden”, sagte der sozialdemokratische Nationalrat Andreas Gross an einer Podiumsdiskussion. “Aber sie haben wahrscheinlich das Beste daraus gemacht. Unsere moderne Existenz verdanken wir jedoch Europa.”

Dies gelte nicht für die Gegenwart, sagte Werner Gartenmann, Direktor der rechtsbürgerlichen Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS): Wir sind uns des europäischen Druckes bewusst, der uns zwingt, europakonforme Gesetze zu erlassen. Aber unsere direkte Demokratie ist unvereinbar mit der Europäischen Union.”

Andreas Auer, Professor an der Universität Zürich entgegnete der Ansicht, Demokratie stehe über allem: “Die Demokratie steht nicht über universellen Werten wie den Menschenrechten.”

Menschenrechte ja, aber…

AUNS-Vertreter Gartenmann wollte zwar die Menschenrechte verteidigen, aber “nicht jene der kriminellen Minderheit”. Seiner Ansicht nach steige die Zahl der Volksinitiativen, “weil die Regierung ihre Arbeit nicht tut. Deshalb müssen wir sagen: Stopp!”

Andreas Gross, Mitglied des Europarats, konterte: Die Menschenrechte stünden über allem. Und dies gelte für jeden Menschen, auch für einen Kriminellen.

Volksinitiativen dürften die Menschenrechte nicht verletzen, sagte Auer und spielte dabei auf die umstrittene Minarett-Verbots-Initiative an. Zur Lösung dieses Problems schlug er die Einrichtung eines Verfassungsgerichts vor.

Für Jacques Simon Eggly, den Präsidenten der Auslandschweizer Organisation (ASO), sollten die universellen Werte geachtet werden. “Vor allem aber müssen sie flexibel angepasst werden, damit sie auch künftigen Herausforderungen gewachsen sind.”

Der Auslandschweizer Kongress 2011 fand vom 26. bis 28. August in Lugano statt.

Am 26. August hat der Rat der Auslandschweizer eine Petition zu Gunsten des freien Personenverkehrs mit 65 Ja-Stimmen, 3 Nein und fünf Enthaltungen verabschiedet.

Das Plenum am 27. August – es war offen für alle interessierten Parteien – war dem Thema direkte Demokratie im internationalen Kontext gewidmet.

Vor der Versammlung sprach auch Bundesrätin Doris Leuthard.

Der Kongress 2012 wird vom 17. bis 19. August in Lausanne im Palais de Beaulieu stattfinden. Thema: “Der freie Verkehr von Wissen – die Schweiz in einer Zeit der globalen Herausforderungen”.

Am Runden Tisch, der Podiumsdiskussion am Samstag, nahmen teil:  

Andreas Auer, Professor an der Universität Zürich und Direktor des Zentrums für Demokratie.

Werner Gartenmann, Direktor der rechtskonservativen Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS).

Andreas Gross, Nationalrat und Mitglied des Europarats, Sozialdemokrat aus Zürich.

René Roca, Historiker, Lehrer am Zentrum für Demokratie in Aarau.

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