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“Wir brauchen mehr Künstler und Philosophen in der Politik”

Brigitta Jónsdóttir: isländische Dichterin, Aktivistin und Co-Gründerin der Piratenpartei. Reuters

Die Demokratie muss vielfältiger und experimentierfreudiger werden. Das findet Brigitta Jónsdóttir, Co-Gründerin der isländischen Piratenpartei, auf deren Programm auch die direkte Demokratie und mehr Regierungstransparenz stehen. Die Piraten könnten bald selbst erstmals politische Macht schnuppern, denn am 29. Oktober finden in Island Parlamentswahlen statt.

“Es ist unglaublich wichtig, Bürger miteinzubeziehen. Wir sollten einfach auf die Strasse gehen und Menschen fragen, was ihnen wichtig ist”, sagte Jónsdóttir kürzlich während einer Podiums-DiskussionExterner Link über die Zukunft der Demokratie am Genfer Graduate Institute. Schliesslich sei es die Leidenschaft dieser Menschen, die etwas bewegen könne. “Das ist Demokratie im Jahr 2030.”

Schon bald könnte die isländische Politikerin, Dichterin, Aktivistin und Co-Gründerin der Piratenpartei selber politische Macht schnuppern. Denn die aktuelle Regierung sah sich gezwungen, Wahlen vorzuziehen: Premier Sigmundur David Gunnlaugsson war wegen “Panama-Papers”-Enthüllungen unter Druck geraten und musste sein Amt im letzten Frühling abgeben.

Öffentliche Empörung über angebliche Vetternwirtschaft in Islands Politik sowie die vermeintliche Straflosigkeit der wenigen Reichen im Land gab den Piraten Aufschwung. Die Partei ruft nach Veränderungen und Transparenz. Laut einer Umfrage von Ende September haben die Piraten gleich viele Unterstützer wie die konservative Unabhängigkeitspartei (22,7 Prozent)

Podiums-Diskussion über die Demokratie im Jahr 2030 am Graduate Institute in Genf. Keystone

Krise als Freundin der Demokratie

“In Island finden in ein paar Wochen Wahlen statt. Aber niemand weiss, was passieren wird. Die etablierten Parteien taumeln, und niemand kann das glauben”, so Jónsdóttir. Die 49-Jährige ist fasziniert von der Idee der Demokratie, der Herrschaft des Volkes.

“Als ich Politikerin wurde, versprach ich, die Türen zum Parlament zu öffnen, damit die Menschen sehen können, wie das wirklich funktioniert”, erzählt sie. “Vor der Krise in Island im Jahr 2008 glaubte niemand, dass wir etwas ändern können. Doch wenn du vorbereitet bist, dann ist die Krise der beste Freund der Demokratie.” Menschen, die für mehr Rechte kämpfen, könnten gewonnen werden, so Jónsdóttir. Und genau das sei in Island passiert.

Wenn es nach der Piratenpartei geht, haben Bürgerinnen und Bürger ein “unbeschränktes Recht” in politische Entscheidungen, die sie betreffen, eingebunden zu werden. Sie sollen neue Gesetze vorschlagen und über diese an der Urne abstimmen, ihre Ansichten frei kommunizieren und Informationen teilen dürfen – ausser die Rechte Dritter könnten dadurch verletzt werden.

Die Piraten treiben Techniken voran, die ziviles Engagement fördern und zu mehr Transparenz und Verantwortlichkeit der Regierung verhelfen. “Es ist wichtig, die Möglichkeit von Bürger-Initiativen und Referenden zu haben, um schlechte Gesetze zu stoppen, bevor sie verabschiedet werden”, sagt Jónsdóttir. “Die Regierungen sollten aufrichtig sein.” Hier sei die Schweiz ein Vorzeigemodell – “wenigstens bis zu einem gewissen Grad”.

So viel Macht wie möglich an die Bürger abgeben: Damit habe die Schweiz viel Erfahrung, und ihre Partei erwähne das immer wieder, sagt Jónsdóttir. “Die Menschen in Island sind sich dessen sehr bewusst.” Die Schweiz sei äusserst erfolgreich, doch müsse sie sich auch weiterentwickeln. “Die Struktur der direkten Demokratie mit ihren vielen Teilzeit-Politikern führt dazu, dass es manchmal an einer vollständigen Übersicht fehlt.

Demokratie-Woche

Brigitta Jónsdóttir hat an der Diskussionsrunde “Demokratie 2030” teilgenommen. Debattiert wurde über Wahlen und Parlamente der Zukunft. Das Graduate Institute hat den Anlass zusammen mit der Interparlamentarischen Union (IPU)Externer Link im Rahmen der Demokratie-Woche in Genf organisiert.

Anwesend waren auch die tunesische Parlamentarierin Myriam Boujbel und der niederländische Senator Nico Schrijver. Er ist Professor für internationales Recht an der Universität von Leiden und Mitglied des Exekutivkomitees der IPU.

Island testet Demokratie-Formen

Seit der Finanzkrise im Jahr 2008 haben die Isländer mit verschiedenen Formen der Demokratie experimentiert. 2011 wurde eine neue Verfassung erarbeitet: Ein nationales Forum mit 1000 zufällig ausgewählten Bürgern und Bürgerinnen arbeitete daran. Zudem wurde Crowdsourcing ausprobiert – eine digitale Form der Arbeitsorganisation, bei der über das Internet auf das Wissen, die Kreativität und die Arbeitskraft einer grossen Masse an Teilnehmern zugegriffen wird. Der Verfassungsentwurf ist momentan allerdings auf Eis gelegt.

Die Stadt Reykjavik lancierte eine Plattform für direkte Demokratie, auf der Bürgerinnen und Bürger Vorschläge zur Verbesserung ihrer Hauptstadt zum Besten geben und diese auch diskutieren können. Die besten 10 bis 15 Vorschläge werden weiterentwickelt, einmal im Monat wird über die besten Ideen abgestimmt.

Laut der Partei sollen Bürger und Bürgerinnen Entscheidungs-Prozesse direkt beeinflussen können. “Wir müssen experimentieren”, sagt Jónsdóttir. Es herrsche ein grosse Kluft zwischen der Öffentlichkeit und den gewählten Abgeordneten. “Die Demokratie seid ihr, das System seid ihr. Ich will Wege finden, um die breite Öffentlichkeit zu erreichen und Bürgerinitiativen zu sammeln.”

Hierfür hat die Partei “Better Iceland” lanciert: Jedermann kann eine Idee einbringen. Wenn zwei Prozent der Isländer und Isländerinnen diese unterstützen, wollen die Piraten sie im Parlament diskutieren. Bei zehn Prozent Unterstützung versprechen sie, einen Gesetzesvorschlag zu erarbeiten und diesen dem Volk zur Abstimmung vorzulegen.

Wille der Bevölkerung muss da sein

Trotz all dem ist Jónsdóttir ein bisschen neidisch auf junge Demokratien wie beispielsweise Tunesien. In solchen Ländern sei das Lernen durch “Trial and Error” (Versuch und Irrtum) spannender. “In einer gut etablierten Demokratie ist es viel schwieriger, fundamentale Veränderungen vorzunehmen.” In Island stehe man im Moment ein bisschen zwischen den beiden Extremen. Wenn die Bevölkerung aber nicht die Führung übernehmen wolle, könne man nichts machen.

Ein Problem kennen die Piraten im Gegensatz zu politischen Parteien vieler westlicher Demokratien aber nicht, nämlich junge Menschen für sich zu gewinnen. “Ich bin eine der Ältesten”, stellt Jónsdóttir fest. Sie sei überrascht, eine Plattform zu betreiben, die Junge zum Mitmachen motiviere.

“Dennoch brauchen wir mehr politische Vielfalt – mehr Künstler, Kreative und Philosophen.” Die Instrumente der direkten Demokratie zu besitzen und den Jüngsten zu gefallen, sei nicht genug. Es gehe darum, das breite Publikum anzusprechen und zum Mitmachen zu motivieren.

“Demokratie bedeutet harte Arbeit”, so Jónsdóttir. “Wenn die Menschen nicht mitmachen und die ganze Verantwortung einer kleinen Gruppe überlassen, im Glauben, diese könne Wunder vollbringen, werden sie immer enttäuscht sein.”

(Übertragen aus dem Englischen: Kathrin Ammann)

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