Ein Putsch gegen die Demokratie
Der Umgang des türkischen Präsidenten Erdogan mit dem Militärputsch schockiert. Sein Abbau der Demokratie verschärft die Spaltungen in der türkischen Gesellschaft. Wie wird die Situation von Türkinnen und Türken wahrgenommen? Einschätzungen und Eindrücke von Pascal Roelcke, der als Austauschstudent in der Türkei weilte.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.
Erdogans Demokratie ist noch nicht am Ziel. Aber die letzten zwei Wochen zeigen, wohin die Reise geht. Gemäss dem Online-Magazin Krautreporter wurden bis Mittwoch, 3. August 2016 73’146 Menschen entlassen oder suspendiert, Journalisten, Richter, Lehrer. Unzählige Schulen, Universitäten und Gewerkschaften wurden geschlossen, die Türkei ist mit Foltervorwürfen konfrontiert.
Die Pressefreiheit ist von Erdogans Säuberungen besonders hart betroffen. Per Dekret hat er sich direkte Kontrolle über das Militär verschafft. Wie konnte es dazu kommen?
Pulsierendes Leben in Istanbul
Im Frühling 2015 studierte ich für ein Semester in der Stadt am Bosporus. Eine vibrierende Metropole voller Bewegung, Aufbruch und Optimismus. Ich landete mitten im Wahlkampf. An allen Knotenpunkten der Stadt warben die Parteien um die Gunst der Istanbuliten. Am 7. Juni 2015 gelang der prokurdischen Partei HDP der Sprung über die 10%-Sperrklausel ins Parlament.
Damit fehlte Erdogan die Mehrheit zum Regieren, sein Traum vom Präsidialsystem schien in weite Ferne gerückt. In den darauffolgenden Wochen und Monaten versank das Land in Anschlägen und Chaos. Wurden die Toten von Suruç noch beweint, setze mit den täglichen Todesmeldungen die Gewöhnung ein. Eine Freundin berichtete mir, wie sie und ihre Freunde aus Angst vor Anschlägen die Metro nicht mehr benutzten, Shoppingmalls und das Stadtzentrum mieden. Die Menschen fühlten sich nicht mehr vom Staat geschützt. «Unsere Leben sind nichts wert», so die Freundin.
Die aufflammende Angst in der Bevölkerung kam Erdogan zugute. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im November 2015 holte sich Erdogans islamisch-konservative AKP die Mehrheit zurück. Den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Osttürkei führte Erdogan aber weiter, zensurierte Medien und krempelte die Justiz nach seinem Geschmack um.
Rückenwind für Erdogan
Der Putsch war ein Versuch des Militärs, dem zunehmend autokratisch regierenden Erdogan die angesammelte Machtfülle zu entreissen. Bewirkt hat der Putsch das Gegenteil. Erdogan versucht die Türkei auf seine Linie zu trimmen und spaltet dabei die Gesellschaft. Kritik hat er dabei keine zu fürchten. Aus Angst, als Putschisten gebrandmarkt zu werden, stehen ehemalige Regierungskritiker aus Reihen der HDP und der kemalistischen CHP nun geeint hinter Erdogans Säuberungsprozessen.
Zum Autor
Pascal Roelcke studierte Internationale Beziehungen an der Uni Genf. Den Bachelor schloss er 2015 mit einem Auslandsemester an der Galatasaray Universität in Istanbul ab.
Gegenwärtig arbeitet er bei der Freiplatzaktion Zürich im Bereich Rechtshilfe für Asyl und Migration.
Danach beginnt er einen Masterlehrgang in Postkolonialen Studien an der SOAS Universität in London.
Ali Can, ein in der Schweiz lebender kurdisch-türkischer Journalist, zeigt sich besorgt über den erstarkenden türkischen Nationalismus. «Was ist das für eine neue Demokratie, welche Allahu Akbar rufend durch die Strassen zieht und Militärs enthauptet?» fragt sich Can.
Eine Demokratie misst sich daran, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Kurden, Aleviten und Linke waren die ersten Verlierer der Putschnacht. In Malatya und Hatay attackierten wütende Strassenmobs kurdische Viertel und verwüsteten HDP-Büros. Doch Can sieht auch Chancen in der aktuellen Entwicklung: «Erdogan wird den Putsch als Anlass nehmen, einen Versöhnungsversuch mit den Kurden zu starten. Die in der Region verübten Gräuel wird er auf die Putschisten abschieben und sich selbst als doppelten Helden der Demokratie und des Friedens präsentieren.»
Die türkische Diaspora
Die Putschnacht strahlt auch in die Schweiz aus: Der Ton gegenüber regierungskritischen Kommentaren verschärft sich auf der Strasse wie in den sozialen Medien. Auslieferungen von Gülen-Anhängern in die Türkei werden gefordert. Die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) rief AKP-Anhänger nach dem Putsch dazu auf, alle Namen von Erdogan-kritischen Autoren an die türkische Botschaft weiterzuleiten.
Innerpolitische Konflikte der Türkei dürfen aber nicht in der Schweiz ausgetragen werden. Sollte es dazu kommen, müssen rechtliche Übertretungen hierzulande geahndet werden. Dabei sollten wir kühlen Kopf und Rechtsstaatlichkeit bewahren.
Unterdessen diskutieren Erdogan-Anhänger fleissig über die Wiedereinführung der Todesstrafe. Nach der Ausrufung des Ausnahmezustandes kündigt Erdogan die teilweise Aussetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) an. Klingt unvorstellbar, doch diese Diskussion sollte uns in der Schweiz nicht unbekannt vorkommen. Mit der Selbstbestimmungsinitiative will die Schweizerische Volkspartei (SVP) genau diese kündigen.
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