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Die nüchterne Realität von Alkoholikerkindern

Der Alkoholkonsum der Eltern belastet auch die Kinder. Keystone Archive

Eltern, die zuviel trinken, setzen ihre Kinder grossen Belastungen aus. In der Schweiz leben gemäss Schätzungen mehr als 50'000 Kinder in alkoholbelasteten Familien.

Oft leiden die Kinder ein Leben lang an ihrer Situation und riskieren, selbst alkohol- oder drogenabhängig zu werden.

Kinder aus alkoholbelasteten Familien leben in einer Situation, die ihre Entwicklung erschwert und benachteiligt: Sie übernehmen oft
Aufgaben, denen sie aufgrund ihrer Entwicklung nicht gewachsen sind.

Sie erleben, dass die Eltern Versprechen nicht einhalten und Bestrafungen und Belohnungen willkürlich verteilen. Die Kinder werden zudem häufig Zeugen von Ehestreitigkeiten und sind Scheidungen ausgesetzt.

Die Schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA) schätzt, dass in der Schweiz mehr als 50’000 Kinder in alkoholbelasteten Familien leben. Sie bezieht sich dabei auf die Ergebnisse der Schweizerischen Gesundheitsbefragung.

Flaschen dominieren Kinderzeichnungen

“50’000 Kinder, das entspricht der Einwohnerzahl einer mittleren Stadt. Diese Zahl ist erschreckend hoch”, sagte Janine Messerli von der SFA, welche kürzlich in Lausanne eine nationale Tagung zu diesem Thema durchführte.

Dabei wurde das Problem zum ersten Mal gesamtschweizerisch von Fachleuten aus Forschung und Praxis thematisiert. Der Kinderpsychologe Alan Guggenbühl arbeitet regelmässig mit Kindern von alkoholabhängigen Eltern.

“Auf ihren Zeichnungen hat es überall Flaschen. Und wenn man sie nach ihren Wünschen fragt, lautet ihr erster Wunsch: Sich von diesen Flaschen befreien. Diese Kinder sehen ihre Eltern mit einem innerlichen Dämonen.”

Die Erfahrung zeigt, dass die Betroffenen bis ins Erwachsenen-Alter an dieser Last tragen, und das Risiko, dass sie selbst eine
Suchtkrankheit entwickeln, ist gross.

Kinder brauchen Betreuung

Ironischerweise spiele der Alkohol in der Wahrnehmung dieser Kinder auch seine Rolle als Problemlöser, führt Guggenbühl weiter aus. “Kommen noch genetische Faktoren hinzu, kann das dazu führen, dass sie später ebenfalls mit Alkohol ihre Probleme zu lösen versuchen.”

Im Teenageralter sind diese Kinder stärker suizidgefährdet, sie leiden mehr an physischen Störungen und neigen stärker zu Gewalt, als andere.

Guggenbühl behandelt zwei 8- und 12-jährige Knaben, die ihre Mutter schlagen, wenn diese betrunken ist. “Sie ertragen es schlicht nicht, wenn sie torkelt und stottert.”

Anlässlich des Symposiums wies der Lausanner Psychologie-Professor Holger Schmid darauf hin, dass diese Betreuung brauchen, um ein angebrachtes Verhalten zu lernen. Wenn die Eltern zuviel trinken, ändern sich die Verhaltensregeln ständig.

Das Tabu brechen

“Es ist, wie wenn die Eltern zwei verschiedene Persönlichkeiten hätten. Eine, wenn sie nüchtern sind und eine andere, wenn sie betrunken sind”, so Schmid.

Guggenbühl ist zuversichtlich, dass den Kindern geholfen werden kann. Das Problem sieht er darin, all die Kinder zu finden, welche betroffen sind.

Das Privatleben der alkoholkranken Eltern ist geschützt. Deshalb gibt es keine exakten Zahlen über betroffene Kinder. Guggenbühl schätzt, dass ihre Zahl gegen 100’000 tendiert.

Janine Messerli von der SFA sagt, es sei das Ziel der Tagung gewesen, das Schweigern zu brechen, welches rund um die Alkohol-Probleme und deren Auswirkungen auf die Familien immer noch vorherrscht.

“Alkohol trinken ist gesellschaftlich akzeptiert, und gleichzeitig sind die Probleme des Alkoholismus tabu”, sagt Messerli.

Alkoholwerbung einschränken?

Die in Lausanne versammelten Fachleute empfehlen die Einführung eines Fragebogens mit fünf Testfragen für betroffene Eltern und eine bessere Unterstützung von Risikofamilien.

Janine Messerli schlägt überdies die Einführung von höheren Alkoholsteuern und vermehrte Einschränkungen für die Alkoholwerbung vor.

Sie weist im übrigen darauf hin, dass Untersuchungen der Weltbank aufzeigten, dass solche Einschränkungen zu einem 8-prozentigen Rückgang des Alkoholkonsums führten.

Die Schweiz scheint nicht in diese Richtung zu gehen. Das Parlament ist daran, die Regeln für die Alkoholwerbung auf privaten Radio- und Fernsehkanälen zu lockern.

“Das ist ein ernsthaftes Problem, denn es ist klar, dass Werbung einen Einfluss auf den Alkoholkonsum hat.”

swissinfo, Elisabeth Meen
(Übertragung aus dem Englischen: Andreas Keiser)

Bei einer Befragung im Jahre 2002 gaben 8% der sechzehnjährigen Jugendlichen an, ihr Vater oder ihre Mutter trinke zuviel.

Die Schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA) schätzt, dass in der Schweiz mehr als 50’000 Kinder in alkoholbelasteten Familien leben.

An einer Tagung in Lausanne einigten sich Fachleute darauf, einen Test-Fragebogen für gefährdete Eltern vermehrt einzusetzen.

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