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Die Schweiz im Krieg – einmal anders

Zeitzeugen von gestern für heute: in Video und Ton swissinfo.ch

555 Zeitzeugen erinnern sich vor der Kamera an die Zeit zwischen 1939 und 1945. Ein Grossprojekt mündlicher Geschichts-Überlieferung – multimedial aufbereitet.

In Lausanne läuft derzeit die Ausstellung “L’Histoire c’est moi”. Sie macht bis Ende 2005 in elf weiteren Städten Halt.

Keine musealen Gegenstände, sondern Video und Ton – und doch Musée historique! Auf dem Hügel über Lausanne gelegen, neben der Kathedrale, zeigt das Museum in multimedial-moderner Form lebendig Verfilmtes und Vertontes zum bis vor kurzem noch schwarz-weiss festgefahrenen Thema der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.

Hinter einem lichtschluckenden Vorhang gelangt der Besucher in einen dunkel gehaltenen Grossraum. Dieser birgt, durch halbhohe Trennwände unterteilt, eine grössere Leinwand und 20 Stühle mit grell aufleuchtenden Knöpfen. Daneben, abgetrennt, einige PC-Bildschirme mit Kopfhörern, wo dieselben Video-Interviews individuell aufgerufen werden können.

Hier haben die Zeitzeugen das Wort

In Form von kombinierten Video-Interviews, thematisch sauber unterteilt, sprechen hier ununterbrochen über 550 Zeitzeugen in allen drei Landessprachen. Es geht um ihre Erinnerungen und Erfahrungen während der Kriegs- und Nachkriegszeit.

Einige Zeitzeugen agierten damals auch vom Ausland aus. “Für Auslandschweizer und an der Schweiz interessierte Ausländer gibt diese Dokumentation eine einmalige Gelegenheit, sich mit der Schweizer Mentalität auseinanderzusetzen”, sagt der Produzent der Kurzfilme und Videos, Frédéric Gonseth, gegenüber swissinfo.

“Nirgends bisher findet man derart gebündelt Aussagen aus allen Landesteilen zum damaligen konkreten Leben, darüber wie man damals geliebt und gehasst hat – alles erzählerisch untermauert.” Vorgetragen nicht in der Form üblicher Allgemeinheiten, sondern als individuelle Erfahrungen.

Wie die Schweiz damals funktionierte

“Man versteht nach dem Anhören dieser Interviews vielleicht etwas besser, wie die Schweiz damals funktionierte,” so Gonseth. “Bis jetzt konnte man noch nie vereint Genfer, Thurgauer, Zürcher oder Tessiner Frauen und Männer hören und sehen, die zu einem ganz bestimmten Thema sprechen.”

Per Knopfdruck themenunterteilt, erschliesst sich dem Museumsbesucher und der Besucherin eine Welt von gestern, lebendig strukturiert und von den Zeitzeugen in der Sprache von heute in einen Zusammenhang gestellt.

General Guisan: “Klein und wenig imposant”

Frei von der Leber weg tischen die Befragten auch unmögliche Episödchen auf. Da erzählt ein Romand, wie ihm “das Monument” Guisan einmal persönlich in der öffentlichen Toilette im Lausanner Quartier St. François begegnet ist. Und bewundert heute noch, dass “Monsieur le Général nicht die Edeltoilette des nahegelegenen Hotels de la Paix aufsuchte, um sein Geschäft zu verrichten, sondern das öffentliche WC des normalen Volkes”.

Erstaunlich auch die Frau, die bestätigt, wie sie General Guisan bis heute “eigentlich hässlich findet. Er war so klein und so gar nicht imposant”.

“Seine grauenhafte Eitelkeit” sei den Leuten auf den Nerv gegangen, urteilt ein weiterer Zeuge. Er habe sich schwarze Phantasie-Revers auf seinen Generalsmantel nähen lassen, obschon dies von der Uniform-Vorschrift her gar nicht zulässig gewesen sei.

Polierte Schuhe als Todesurteil

Auch weniger Amüsantes kommt zum Vorschein, wenn sich der Museumsbesucher durch die Erzählungen der Zeitzeugen durchklickt.

Ein ehemaliger Internierter erinnert sich ans Lagerleben mit dem strengen Schweizer Kommandanten. Er wurde Zeuge, wie man einen Neuankömmling an die Grenze zurück und damit in den sicheren Tod schickte, nur weil dieser ein Paar neue blankpolierte Schuhe getragen habe.

Dies habe ihn in den Augen des Leiters suspekt gemacht. “Wir anderen Lagerinsassen trugen alle ausgelaufene alte Schuhe. Es war offensichtlich, dass seine irgendwo gestohlen worden waren.”

“In der Schweiz überdeckten die langweiligen offiziellen Kriegsklischees die interessanten Aspekte”, sagt Produzent Gonseth dazu. “Und wir dachten, wir wüssten schon alles. Doch es war einfach nur offiziell festgelegt.”

In Frankreich habe es nach dem Krieg zumindest Prozesse gegen die Kollaborateure gegeben, während denen einiges herausgekommen sei. “Doch in der offiziellen Schweizer Version gab es hierzulande nur Helden.”

“Sogar die Besetzung der Bundesrats-Sitze blieb nach dem Krieg bis weit in die 50er Jahre hinein beinahe dieselbe – im Gegensatz zu anderen Ländern wurde niemand zur Rechenschaft gezogen”, so Gonseth.

Dies kam erst 45 Jahre später, während der Holocaust- und der Vermögens-Debatte. Laut Gonseth kam auch die Idee der Video-Dokumentation 1998 auf, als er den Film “Hitlers Sklaven” produzierte und viele Schweizer und Schweizerinnen sich mehr Dokumentation auch über ihr Land in jener Zeit wünschten.

swissinfo, Alexander Künzle

Wanderausstellung “L’Histoire c’est moi”, seit Januar gleichzeitig im Musée historique in Lausanne und im Théâtre St-Gervais in Genf.

Ab Mai wird sie gleichzeitig in Basel und St. Gallen, bis ins Jahr 2005 in elf anderen Schweizer Städte zu sehen sein.

Im Rahmen des Projekts mündlicher Geschichts-Überlieferung “archimob” sind rund 550 Video-Interviews mit Zeitzeugen aufgenommen worden.

Der Besucher kann sich mit vier Knöpfen innerhalb der vier Themen die entsprechenden Erinnerungen von Deutschschweizern (Dialekt), Romands und Tessinern anhören.

Auch Filme, die Archivaufnahmen mit heutigen Kommentaren kombinieren, können ausgesucht werden. Diese Kurzfilme waren während den Solothurner Filmtagen am 23. Januar erstmals zu sehen.

Die 21 Dokumentarfilme verschiedener Regisseure wurden von Frédéric Gonseth, Lausanne, produziert.

Die Aufarbeitung der traumatischsten Perioden für die Schweiz des 20. Jahrhunderts, der Zeit zwischen 1939 und 1945, muss mit der “offiziell festgelegten Ikonografie” brechen, die bis vor kurzem dominierte.

Die Holocaust-Anschuldigungen an die Schweiz in den neunziger Jahren und die 50-Jahr-Gedenken ans Kriegsende haben die Thematik belebt und einem breiten Publikum erstmals neue Einblicke ermöglicht.

Neue Technologien wie die Multimedialität ermöglichen es den Jungen, dieses Geschichtsthema unmittelbarer anzugehen. Die 550 Zeitzeugen erzählen lebendig über ihre Erinnerungen, reflektierend aus heutiger Sicht.

Die Videos wurden in den Jahren 1998 bis 2000 aufgenommen.

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