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Schweizer Pionierleistung: Die 100-jährige Geschich­te der Centovallibahn

historische AUfnahme der Centovallibahn
Elektrischer Triebwagen BCFe 4/4, Nr. 18, der an der Kirche von Tegna vorbeifährt, aufgenommen am 24. August 1925. Verkehrshaus der Schweiz, VA-423

Die Vigezzina-Centovallibahn überquert 83 Brücken und passiert 31 Tunnels. Sie verbindet die Schweiz mit Italien und ist die direkteste Strecke zwischen der Gotthard- und der Simplonlinie. Die legendäre Schmalspurbahn in der Südschweiz feiert 2023/24 ihr 100-jähriges Jubiläum.

Dieser Artikel stammt aus dem Blog des Schweizerischen NationalmuseumsExterner Link und wurde dort am 3. April 2024 veröffentlicht.

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts gab es im Centovalli und im Vigezzotal nur Sackstrassen von Locarno und Domodossola aus. Ein Saumpfad war die einzige Verbindung zwischen den beiden Tälern bis zur Eröffnung einer Strasse im Jahr 1907. Gleichzeitig dachte man auch über eine Bahnlinie nach.

Deren Errichtung ging massgeblich auf die Initiative von Francesco Balli (1852-1924), dem Stadtpräsidenten von Locarno, sowie den Lehrer Andrea Testore (1855-1936) und den Ingenieur Giacomo Sutter (1873-1939) zurück. Für die Finanzierung konnte die französische Banque Franco-Américaine gewonnen werden. 1909 wurde in der Schweiz die Ferrovie Regionali Ticinesi (FRT) und 1912 in Italien die Società Subalpina di Imprese Ferroviarie (SSIF) gegründet.

Die aufgenommenen Bauarbeiten verzögerten sich jedoch, weil die Bank 1913 in Schwierigkeiten geriet und Konkurs ging. Neben den finanziellen Problemen führte auch der Erste Weltkrieg zu Verzögerungen, als die italienischen Arbeitskräfte beim Kriegseintritt Italiens 1915 an die Front einberufen wurden.

1918 unterzeichneten die Schweiz und das Königreich Italien einen bis heute unverändert gültigen StaatsvertragExterner Link, der die Rechte und Pflichten der beiden Staaten und Bahngesellschaften festlegte.

historisches bild der centovallibahn
Der Bau der Centovallibahn mit teils einfachen Hilfsmitteln verlangte den Arbeitskräften alles ab. Archiv Ferrovie Autolinee Regionali Ticinesi

Locarne­ser Tram und Maggiatalbahn

Die Bahnlinienführung durch das von Schluchten und Bergflanken durchzogene Gebiet war anspruchsvoll und erforderte die Errichtung von zahlreichen Tunnels und Viadukten.

Neben den Steinbogenbrücken über das Val d’Ingiustria, den Rio Graglia und bei Ponte Ribellasca gehören insbesondere die Stahlbrücke über den Isorno bei Intragna und die Ruinaccibrücke bei Camedo zu den spektakulärsten Eisenbahnbrücken der Schweiz.

Bau der majestätischen Stahlbrücke über den Isorno bei Intragna, um 1916.
Bau der majestätischen Stahlbrücke über den Isorno bei Intragna, um 1916. Schweizerische Nationalmuseum

Es mussten Tunnels erbaut und bestimmte Abschnitte umelektrifiziertExterner Link werden. Die Centovallibahn teilte sich das Gleis zwischen Ponte Brolla und dem Bahnhof mit dem Locarneser Tram sowie der Locarno-Ponte Brolla-Bignasco-Bahn (Maggiatalbahn). Die «Valmaggina» war 1905 erbaut worden, um die Steinbrüche des Tals mit der Gotthardbahn und den Lastschiffen auf dem Lago Maggiore zu verbinden. Beide Gesellschaften wurden an die FRT verpachtet und von Wechselstrom auf das Gleichstromsystem der Centovallibahn umgerüstet.

Für die umfangreichen Umbauten kaufte die Gesellschaft zwei Dampflokomotiven der Rhätischen Bahn (RhB) und die Dampflok «Salève» aus Genf. Die festliche Eröffnung der Schmalspurbahn mit den von Carminati & Toselli in Mailand hergestellten elektrischen Triebwagen fand am 25. November 1923 statt.

Hoffnungs­trä­ger im Zweiten Weltkrieg

Obwohl die internationalen Verbindungen durch den Kriegsausbruch fast vollständig unterbrochen waren, fuhr die Centovallibahn während des Zweiten Weltkrieges anfänglich weiter. Es gab einen stark ausgedünnten Kriegsfahrplan. Weil der Individualverkehr durch die Treibstoffrationierung stark eingeschränkt war, profitierten die FRT von einem beträchtlichen Verkehr.

Während des Krieges erhielt die Schweizer Grenze für zahlreiche zivile Flüchtlinge, Partisanen, Deserteure und bedrängte ausländische Truppenteile schicksalhafte Bedeutung. Der SchmuggelExterner Link von Waren, Personen und Waffen nahm ein bisher unbekanntes Ausmass an. Meistens erfolgte dieser über die grüne Grenze, gewisse Schmuggleraktivitäten wurden – erfolgreich oder nicht – auch über die Centovallibahn abgewickelt.

historische AUfnahme, Kinder in Zug
Flüchtlingskinder am Fenster eines vom Schweizerischen Roten Kreuz organisierten Bahnwagens, um 1944. Archiv Schweizerisches Rotes Kreuz

Nach dem Zusammenbruch Italiens unterbanden die Schweizer Behörden am 18. September 1943Externer Link  den bescheidenen internationalen Verkehr. Am 10. September 1944 war es italienischen Partisanengruppen gelungen, die faschistischen Truppen zu vertreiben und an der Schweizer Grenze die Partisanenrepublik OssolaExterner Link auszurufen, die für 44 Tage währte.

Während dieser chaotischen Zeit, insbesondere nach der Rückeroberung des Gebiets durch faschistische Truppen, flüchteten im Oktober 1944 zehntausende Menschen in die Kantone Wallis und Tessin. Zahlreiche unter ihnen gelangten mit der Centovallibahn nach Locarno und wurden von dort in Flüchtlingslager oder in Tessiner Gastfamilien untergebracht.

Infrastruk­tur­pro­jek­te und Jahrhundert-Unwetter

Neben sich nach dem Zweiten Weltkrieg erholenden Personenzahlen verzeichnete der Güterverkehr bis zum Anfang der 1950er-Jahre mit einem Volumen von teilweise über 100‘000 Tonnen pro Jahr eine hohe Nachfrage. Sie war auf die Materialtransporte für die WasserkraftprojekteExterner Link im Maggiatal und die Staumauer von Palagnedra zurückzuführen.

eine Staumauer im Bau
Beim Bau des Palagnedra-Stausees gelangte das Material von den Güterwagen der Centovallibahn (links oben) über Rutschen direkt zur Baustelle, um 1950. Archiv Officine Idroelettriche della Maggia

Nach einem Vierteljahrhundert Bahnbetrieb drängten sich grundlegende Sanierungen auf. 1952 fusionierte die FRT mit der Maggiatalbahn. Die Locarneser Trambahn war in schlechtem Zustand und wurde Mitte der 1950er-Jahre durch Autobusse ersetzt und 1960 endgültig eingestellt.

Mit dem Betrieb von Autobuslinien änderte die Gesellschaft ihren Namen 1961 in Ferrovie e Autolinee Regionali Ticinesi (FART) um. Auch im Maggiatal setzte sich der Busbetrieb durch, am 28. November 1965 verkehrte die «Valmaggina» zum letzten Mal von Bignasco nach Locarno.

Ende der 1950er-Jahre erhielt die Centovallibahn neues Rollmaterial und die Fahrleitung wurde auf der Schweizer Seite komplett erneuert. Gleichzeitig wurden die Rückstände auf italienischer Seite immer offensichtlicher, ihre Fahrleitungsmasten bestanden grösstenteils noch aus krumm gewachsenem Kastanienholz.

Mit Schweizer Unterstützung konnten die Erneuerungen in den 1970er-Jahren durchgeführt werden. Kaum fertiggestellt, schwemmte am 7. und 8. August 1978 ein Jahrhundertunwetter auf italienischer Seite ein Teil des Bahntrassees zwischen Re und Olgia über mehrere hundert Meter komplett weg, brachte drei Brücken zum Einsturz und beschädigte viele Kunstbauten.

Nur dank dem unermüdlichen Einsatz der Baudiensttruppe konnten Teilabschnitte und am 28. September 1980 der durchgehende Bahnverkehr wieder aufgenommen werden.

Zerstörtes Gleis
Zerstörtes Schienentrassee auf der italienischen Seite nach dem Unwetter im August 1978. Keystone

Danach bahnte sich ein grösseres Infrastrukturprojekt auf Schweizer Seite an. In Locarno kamen sich die Endstation der Centovallibahn und der belebte Bahnhofplatz in die Quere. Die Lösung bestand in einem 2,59 km langen Tunnel zwischen S. Antonio und Muralto sowie einem unterirdischen Bahnhof.

Die in Locarno als «Minimetro» bezeichnete Tunnelstrecke verschlang statt den veranschlagten 38 Millionen rund 130 Millionen Franken und wurde am 17. Dezember 1990 in Betrieb genommen werden.

zwei Züge der Centovallibahn auf dem Locarner BAhnhofplatz 1967
Als die Centovallibahn noch oberirdisch auf dem Bahnhofplatz in Locarno verkehrte, 1967. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Bärtschi, Hans-Peter

Eine der schönsten Bahnli­ni­en der Welt

Von Locarno nach Domodossola schlängelt sich die auf Schweizer Seite liebevoll «Centovallina» und auf der italienischen Seite «Vigezzina» genannte Bahn durch eine eindrückliche Natur- und Kulturlandschaft. Die Fahrt führt entlang von tiefen Schluchten, Flüssen, verschneiten Bergen, Wasserfällen, Kastanienwäldern, Rebbergen und blumigen Wiesen.

Vom harten Alltag und dem bescheidenen Leben von früher zeugen diverse SchmugglerpfadeExterner Link und Museen, wie etwa das SchornsteinfegermuseumExterner Link in Santa Maria Maggiore. Es ist das höchstgelegene Dorf (816 m. ü. M.) entlang der Bahnlinie und ist geprägt von schönen Plätzen, engen Gässchen und charakteristischen Gebäuden.

Doch neben der Schönheit war und ist es für viele Menschen schlichtweg ein schneller Weg, um aus dem Tessin in die Westschweiz oder nach Bern zu gelangen. Um den heutigen Ansprüchen und den Anforderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes zu entsprechen, muss die Reise weitergehen: Ende 2020 bestellte die FART acht neue Triebzüge bei Stadler Rail – die ersten Züge sollen 2024 eintreffen.

SWI swissinfo.ch publiziert regelmässig Artikel aus dem Blog des Schweizerischen NationalmuseumsExterner Link. Dort werden mehrmals wöchentlich Beiträge zur Geschichte der Schweiz in Deutsch, Französisch und Englisch publiziert.

Centovallibahn fährt über eine Brücke
Idyllische Herbststimmung beim Ruinacci-Viadukt. Ferrovie Autolinee Regionali Ticinesi

Jean-Luc Rickenbacher ist Historiker und Kurator im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern.

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