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“Die Schweizer können ihren Traum wahrmachen”

U-21-Star Xherdan Shaqiri wird von grossen europäischen Clubs umworben. Keystone

Nach den Siegen gegen Dänemark und Island steht die Schweiz praktisch im Halbfinal der U-21-EM. Der Europameister-Titel liege für diese Generation voller Talente in Griffnähe, sagt Bernard Challandes, der ehemalige Trainer der U-21-Nati.

Wird die Schweiz nach dem U-17-Weltmeistertitel von 2009 in Nigeria eine weitere Toptrophäe im Weltfussball holen? Die Chancen stehen jedenfalls nicht schlecht. Nach dem 1:0-Sieg gegen Gastgeber Dänemark und dem 2:0-Erfolg gegen Island reicht der Schweiz am Samstag gegen Weissrussland ein Unentschieden, um sich für den Halbfinal der U-21-Europameisterschaft zu qualifizieren.

Angeführt von Spielern wie Shaqiri, Xhaka, Emeghara oder Mehmedi, die beim überraschenden 2:2 der Schweizer A-Nati gegen England vor zwei Wochen im Wembley-Stadion von Coach Ottmar Hitzfeld eingesetzt wurden, gilt das Schweizer U-21-Team in Dänemark als Co-Favorit.

Bernard Challandes, der die “Titanen” an der U-21-EM 2002 auf den 3. Platz brachte, sieht in diesen Erfolgen das Resultat eines weltweit bewunderten Ausbildungssystems und einer hervorragenden Stimmung unter den Spielern mit verschiedenster Herkunft.

swissinfo.ch: Wie schätzen Sie die bisherigen Leistungen der Schweizer U-21 an der EM in Dänemark ein?

Bernard Challandes: Ich wusste, dass dieses Team ein grosses Potenzial hat und uns grosse Freude machen kann. Es ist den Erwartungen gerecht geworden.

Es erinnert mich an 2002 und 2004, als sich die U-21 für die EM-Endrunde qualifiziert hatte. Da zeichnete sich die Zukunft von Spielern wie Grichting, Magnin, Cabanas, Alex Frei, Barnetta, Lichtsteiner, Degen oder Senderos ab. Heute heissen die neuen Talente Xhaka, Shaqiri, Emeghara, Mehmedi oder Fabian Frei. Diese Generation hat viele grosse Hoffnungsträger.

swissinfo.ch: Kann die Schweiz diese Euro gewinnen?

B.C.: Ja, dieses Team kann seinen Traum wahrmachen. Es hat das Potenzial zur Final-Qualifikation. Im Endspiel könnten die Schweizer auf Spanien oder England treffen. Ich glaube an ein solches Kunststück.

swissinfo.ch: Das Schweizer U-21-Team beeindruckt in allen Bereichen des Spiels. Was ist das Rezept dieses Erfolges?

B.C.: Es ist ganz klar ein Resultat des Ausbildungssystems, das in den letzten Jahren umgesetzt worden ist. Ein grosser Teil dieser Mannschaft spielt bei Schweizer Klubs. Und jene, die ins Ausland gegangen sind, haben während mehreren Jahren von der Ausbildung in der Schweiz profitiert.

Wir können stolz sein auf die Arbeit des Schweizer Fussballverbandes und der Schweizer Vereine. Unser Ausbildungssystem läuft wie geschmiert und geniesst mittlerweile weltweite Anerkennung.

swissinfo.ch: Die Schweiz hat mit Xherdan Shaqiri eine neue Perle, der von den grössten europäischen Klubs umworben wird. Was löst er bei Ihnen für Gedanken aus?

B.C.: Er hätte das Aufgebot in die U-21 ablehnen können unter dem Vorwand, dass er schon eine lange Saison beim FC Basel und in der Schweizer A-Nati gespielt hat. Mit seinem Einsatz für die U-21 zeigt er, wie sehr er das Fussballspielen liebt, für die Schweiz. Es ist ihm also nicht in den Kopf gestiegen. Das ist vielleicht das positivste Zeichen. Shaqiri besitzt aussergewöhnliche Qualitäten: Physis, Schnelligkeit, Explosivität, Technik, Schusskraft. Er ist ein sehr kompletter Spieler.

Er ist überdies mental unglaublich stark. Es sind Spieler wie er, die seit mehreren Jahren dazu beigetragen haben, die Mentalität der Schweizer Fussballer zu verändern. Sie sind selbstbewusst geworden und verstecken sich nicht mehr. Und sie sind fähig, die grössten Fussballnationen herauszufordern.

swissinfo.ch: Hat sich Ottmar Hitzfeld beim EM-Qualifikationsspiel gegen England im Londoner Wembley Stadion (2:2) vom dynamischen, offensiv ausgerichteten Spiel der Nachwuchs-Nationalteams inspirieren lassen?

B.C.: Diese jungen Spieler bringen ganz klar Frische ins Spiel, wie das vor einigen Jahren mit Frei, Barnetta oder Cabanas der Fall war. Mit ihrem Talent, ihrem Mut  und ihrer Unbekümmertheit verändern sie das Gesicht der Mannschaft. Das ist der normale Prozess in jedem Team.

Aber in einem Land wie der Schweiz war es manchmal schwierig, Nachfolger zu finden. Wir haben jetzt wieder eine Generation, die erfolgreich jene ersetzen kann, die sich langsam verabschiedet. Das ist bemerkenswert.

swissinfo.ch: Einige U-17-Weltemeister konnten sich in ihren Klubs als Stammspieler behaupten, andere bekundeten mehr Mühe. Wie erklären Sie sich diese Unterschiede?

B.C.: Wir dürfen nicht träumen, lediglich drei oder vier Spieler der Nigeria-Epoche werden in der A-Nati spielen. Das ist anderswo genau so. Der Juniorenfussball ist ganz anders als der Profi-Fussball. Der Weg, der diese zwei Welten verbindet, ist sehr heikel.

Vom Schweizer U-17-Europameisterteam von 2002 schafften lediglich Ziegler, Barnetta  und Senderos den Sprung in die A-Nationalmannschaft. Andere brauchen mehr Zeit, weil sie ins Ausland gingen, wo die Konkurrenz viel stärker ist. Manchmal funktioniert es, wie bei Djourou und Senderos, bei denen es sehr schnell ging. Manchmal funktioniert es weniger gut, wie man bei Ben Khalifa und Gavranovic sieht. Zuerst bei grossen Schweizer Klubs zu spielen, bevor man ins Ausland geht, ist allgemein die beste Option.

swissinfo.ch: Warum gibt es in der Schweiz keine grösseren Spannungen wegen der Herkunft der Spieler, wie das in Frankreich der Fall ist?

B.C.: In Frankreich ist die Debatte in den Rassismus abgeglitten. Alles hatte damit angefangen, dass sich Spieler, die in Frankreich ausgebildet worden waren, sich für den Einsatz in der Nationalmannschaft ihres Herkunftslandes entschieden.

Diese Diskussion haben wir auch in der Schweiz gehabt. Es war aber nie die Rede von Quoten wie in Frankreich. Es ging darum, Lösungen zu finden, damit sich diese Spieler im Nationalteam weiter entwickeln können. Die Beispiele von Kuzmanovic und Petric wurden ausführlich kommentiert.

Heute hat sich die Situation verändert. Fast die Hälfte der Nationalmannschaft besteht aus Spielern der zweiten und dritten Einwanderergeneration, ohne dass dies die geringsten Probleme schaffen würde.

swissinfo.ch: Macht die kulturelle Vielfalt die Stärke der verschiedenen Schweizer Nationalteams aus?

B.C.: Sicher! Das ist die Stärke der Schweiz, aber auch von Frankreich und von praktisch allen Nationalmannschaften. Für ein kleines Land wie die Schweiz ist diese Vielfalt ein enormer Vorteil.

Spieler wie Shaqiri, Xhaka oder Mehmedi haben unterschiedliche Lebensläufe. Ihre Eltern mussten durchhalten und durch schwierige Momente gehen, die Migration kann manchmal wie ein Krieg sein. Sie haben deshalb vielleicht mehr Begierde auf Erfolg. Das zwingt unsere ‘guten kleinen Schweizer’ zu zusätzlichen Anstrengungen.

Neuenburg. Der in Le Locle, Kanton Neuenburg, geborene 60-jährige Bernard Challandes ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Als diplomierter Bibliothekar lehrte er allgemeine Kultur an technischen Berufsschulen in der Region Neuenburg, bevor er sich ganz seiner Passion, dem Fussball, zuwandte.

Titanen. Als vorzüglicher Kommunikator anerkannt, übernahm er 2001 als Coach die Führung der Schweizer U-21. 2002 erreicht er mit den “Titanen” die Halbfinals der Europameisterschaft. “Titanen” war der Übernahme der damaligen jungen goldenen Generation des Schweizer Fussballs, zu der Spieler wie Grichting, Cabanas, Frei oder Magnin gehörten.

Meister. Im Juli 2007 trat er beim FC Zürich die Nachfolge von Trainer Lucien Favre an, der sein Glück bei Hertha Berlin versuchte.

2009 wurde er mit dem FCZ Schweizer Meister. Ein Jahr später wurde er entlassen. Er wurde Coach vom FC Sion, wo er am 22. Februar den Hut nehmen musste.

Gegen Ende der Meisterschaft 2011 konnte er als Trainer von Xamax den Neuenburger Klub vor dem Abstieg in die Challenge League retten.

Für die kommende Super-League-Saison hat ihn der FC Thun als Coach engagiert.

Weissrussland – Island 2-0 (0-0)
Dänemark – Schweiz 0-1 (0-0)
Schweiz – Island 2-0 (2-0)
Dänemark – Weissrussland 2-1 (1-1)

Letzte Gruppenspiele vom Samstag:

Schweiz – Weissrussland (20.45 Uhr, live am Schweizer Fernsehen)

Island – Dänemark (20.45 Uhr).

Rangliste (14.06)


1. Schweiz 2 2 0 0 3-0 6
2. Dänemark 2 1 0 1 2-2 3
3. Weissrussland 2 1 0 1 3-2 3
4. Island 2 0 0 2 0-4 0

1. und 2. = in den Halbfinals

 

Die Schweizer Auswahl (alphabetisch)

Torhüter: Kevin Fickentscher (Sion/5 Spiele/0 Tore), Benjamin Siegrist (Aston Villa/0/0), Yann Sommer (Basel/26/0).

Verteidiger: François Affolter (Young Boys/7/1), Gaetano Berardi (Brescia/15/0), Fabio Daprelà (Brescia/7/0), Timm Klose (Thun/7/0), Philippe Koch (Zürich/13/1), Daniel Pavlovic (Grasshoppers/14/0), Jonathan Rossini (Sassuolo/18/1).

Mittelfeld/Angriff: Amir Abrashi (Grasshoppers/7/0), Nassim Ben Khalifa (Nürnberg/7/1), Moreno Costanzo (Young Boys/9/1), Innocent Emeghara (Grasshoppers/3/4), Frank Feltscher (Bellinzona/23/4), Fabian Frei (St. Gallen/17/4), Mario Gavranovic (Schalke 04/9/3), Pajtim Kasami (Palermo/8/1), Fabian Lustenberger (Hertha Berlin/20/2), Admir Mehmedi (Zürich/5/1), Xherdan Shaqiri (Basel/2/0), Granit Xhaka (Basel/1/0), Xavier Hochstrasser (Padua/16/2).

(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

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