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“Schweizer Schulen können keine soziale Gerechtigkeit herstellen”

Schulschliessungen bergen die Gefahr einer Lernkluft. Das sagt Pädagogik-Professorin Margrit Stamm. Sie fordert Unterstützungsmassnahmen für Kinder aus benachteiligten Verhältnissen.

Fast alle Schülerinnen und Schüler in der Schweiz dürften sich über die Nachricht der Schliessung der Schulen ausserordentlich gefreut haben. Doch im Laufe der Tage und Wochen verwandelte sich die Freude in Langeweile und Nostalgie für das Klassenzimmer, die Klassenkameraden und Lehrer. “Der digitale Fernunterricht hat die grundlegende Bedeutung des Klassenzimmers, der sozialen Beziehungen für das Lernen hervorgehoben”, erklärt Margrit Stamm, emeritierte Pädagogikprofessorin der Universität Freiburg.

Eine Frau spricht in ein Mikophon
Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Fribourg und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education mit Sitz in Aarau, das in mehreren Ländern im Bereich der Bildungsforschung tätig ist. Im März 2018 erhielt sie den internationalen Doron-Preis für ihre Pionierarbeit auf dem Gebiet der pädagogischen Psychologie und Pädagogik. © Keystone / Georgios Kefalas

swissinfo.ch: Ist die Krise für Schulen auch eine Chance?

Margrit Stamm: Der digitale Fernunterricht hat an Bedeutung gewonnen. Früher mussten die Lehrer dafür kämpfen, Kredite für den Kauf der notwendigen IT-Tools zu bekommen. Jetzt besteht eine Dringlichkeit. Dabei sind aber die vielen ungelösten Fragen und Probleme beim Fernunterricht nicht zu vergessen.

Beim Fernunterricht fehlt das Klassenzimmer. Was ist seine Bedeutung?

In den letzten Wochen haben alle erkannt, dass das Klassenzimmer ein grundlegender Ort des Lernens ist. Lehrtätigkeit hat immer mit Beziehungen zu tun – zwischen Schülern und Lehrern und insbesondere zwischen den Klassenkameraden. Wenn der Unterricht nur auf Distanz stattfindet, vermissen die Kinder ihre Nachbarn, ihre Lehrer und Lehrerinnen sowie die Schule als Institution. Im Moment steht die Familie als kleinste soziale Einheit vor enormen Herausforderungen.

Für viele Familien ist es ein Stresstest. Müssen die Eltern tatsächlich Aushilfslehrer spielen?

Die Lehrer haben eine institutionalisierte Beziehung zu den Schülern, während die Eltern eine emotionale Beziehung zu ihren Kindern haben. Ihre Aufgabe ist es, sie in ihrem Lern- und Wachstumsprozess zu unterstützen. Wenn die Mutter nun die Rolle der Aushilfslehrerin übernimmt, kann dies zu Konflikten führen. Diese Gefahr sehe ich vor allem bei gutsituierten Familien, wenn sie die Zeit nutzen wollen, um mögliche Lernlücken ihrer Kinder auszugleichen oder ihnen für die Zeit danach einen Vorteil gegenüber ihren Klassenkameraden verschaffen wollen.

Welche psychologischen Anforderungen werden an Familien gestellt?

Die Situation zwingt die Familien, einen Grossteil des Tages in den eigenen vier Wänden zu verbringen. Einerseits arbeiten die Eltern von zu Hause aus, einige haben vielleicht ihren Arbeitsplatz verloren oder ihre Unternehmen mussten schliessen. Zuvor folgten die Tage ihrem eigenen Rhythmus, der durch Schulstunden, Büroarbeit, Hausaufgaben und ausserschulische Aktivitäten bestimmt wurde. Nun müssen die Tage neu organisiert werden, und das ist für viele Eltern eine grosse psychische Belastung.

Vater und Kind
Wegen der Corona-Krise verwandeln sich viele Schweizer Wohnzimmer in Arbeitsort und Spielzimmer gleichzeitig. Keystone / Jean-christophe Bott

Was ist mit den Kindern?

Sie vermissen vor allem ihre Klassenkameraden. Die Schule ist der Ort, an dem sie sich treffen und Freundschaften pflegen können. Sie bietet ihnen ein Ventil, um allfällige Spannungen und Streitigkeiten in der Familie abzubauen. Kinder sind wie Seismographen. Auch wenn sie widerstandsfähiger sind, als wir denken, würde sie eine längere Schliessung der Schulen unter enormen Stress setzen.

Welche anderen Konsequenzen könnte eine längere Schliessung von Schulen haben?

Es besteht die Gefahr, dass sich Lernlücken vergrössern. Auf der einen Seite haben wir Eltern, die ihren Kindern viel, vielleicht sogar zu viel Zeit widmen. Auf der anderen Seite haben wir Familien mit einem niedrigen Bildungsniveau, die nicht wissen, was sie so unvorbereitet tun müssen. Sie haben vielleicht eine langsame Internetverbindung. Sie wissen nicht, wie sie ihren Kindern helfen können, oder sie sind nicht an den Aufgaben interessiert, die ihnen von den Lehrern und Lehrerinnen zugewiesen werden. Diese Schülerinnen und Schüler brauchen direkte Unterstützung. Hilfe aus der Ferne reicht nicht aus.

Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler in den Sommerferien – wenn sie auf sich gestellt sind, viel vergessen. Vielleicht weil sie die ganze Zeit vor der Playstation verbringen und in dieser Zeit fast kein Wort Deutsch sprechen. Weil die Sommerferien dazu beitragen, bei solchen Kindern Lernlücken zu vergrössern, müssen wir davon ausgehen, dass dies bei langen Schulschliessungen in der Tendenz auch der Fall ist. Es sind die schwachen Schulkinder, die den Kürzeren ziehen.

Tun die Lehrer nicht genug, um diese Lücke zu schliessen?

Nein, meine Aussage ist nicht als Kritik an Lehrpersonen gedacht. In der Schweiz ist die soziale Gerechtigkeit nicht gewährleistet. Die Schule kann sie nicht herstellen, sie kann nur versuchen, die Ungleichheit etwas weniger ungleich zu machen. Aber wir wissen, dass es möglich ist, diese Lücke durch Unterstützungs- und Fördermassnahmen zu verringern. Aus diesem Grund müssen wir uns neben der Entwicklung des digitalen Fernunterrichts auch auf mögliche Strategien konzentrieren, die verhindern, dass sich diese Lernkluft vergrössert.

Welche Strategien meinen Sie?

Aus Studien wissen wir, dass der Lernerfolg von Kindern aus einem sozial benachteiligten Umfeld durch Mentoren erhöht werden kann. Das sind Menschen ausserhalb von Familie und Schule, die unterstützen, ermutigen und auch am Selbstwertgefühl der Kinder arbeiten.

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