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Das Virus, die Schweiz und der Stillstand

15. März - als gäbe es kein tödliches Coronavirus: Menschen geniessen am Sonntagnachmittag am Zürichsee die Frühlingssonne. Bilder wie dieses bewogen den Bundesrat zur Verhängung eines Versammlungsverbots für mehr als fünf Personen. Keystone / Ennio Leanza

Die Menschen in der Schweiz wollten den Frühling feiern. Aber Zürich, Basel, Bern, Genf & Co. sind nun Geisterstädte. Banker, Nationalrätinnen, Ständeräte, Fussballer und Skiasse sind von der Bildfläche verschwunden. Es dominieren Bilder von Daniel Koch, oberster Kämpfer gegen das Coronavirus. 

Die Ausgeh-Agenda ist einer Krisen-Agenda gewichen. Deren Fixpunkte sind die Medienkonferenzen der Regierung mit der Verkündung der neuen, schärferen Massnahmen. Willkommen in der Schweiz im Bann der Coronakrise. Hier eine persönliche Einordnung der Geschehnisse.

Vor dem Virus sind alle gleich. Gleich machtlos. Auf einmal haben selbst der Bundesrat, das Parlament und die allgewaltigen Wirtschaftsbosse, also jene, deren Entscheide sonst das Leben von 8,5 Millionen Menschen in der Schweiz betreffen, keine Antworten mehr.

Die sieben Politikerinnen und Politiker des Bundesrats regieren das Land im Krisenmodus. Mit Massnahmen, die es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Aber das Gesicht dieser Entscheidungen ist jenes eines Beamten: Daniel Koch, Arzt und Leiter der Abteilung übertragbare Krankheiten beim Bundesamt für Gesundheit.

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Daniel Koch, Mr. Coronavirus der Schweiz

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Gestern noch unbekannt, heute auf jedem Bildschirm. Von den Deutschschweizern gelobt, vom Tessin und der Westschweiz kritisiert. Ein Porträt.

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Der Berner Arzt und sein Stab aus Chefbeamten aller involvierten Bundesbehörden haben neben dem Virus anfänglich zwei Antagonisten: einen Teil der Bevölkerung, dem der Ernst der Lage nicht auf Anhieb klar ist. Und mehrere Kantone, insbesondere jene aus Grenzregionen, die im Kampf gegen die schlimmste Krise seit 75 Jahren weiter vorpreschen als es der Bundesrat will.

Der plötzliche Wechsel in den Gesichtern mit öffentlicher Präsenz ist ein Indiz dafür, wie fundamental die Umwälzung ist zwischen der Ankunft des Virus bis zur – vorerst – höchsten Stufe der Eskalation.

Die Chronologie der Ereignisse:

● Januar 2020: Die Skiasse Beat Feuz und Daniel Yule stürzen die Skination Schweiz in einen Taumel – mit ihren Siegen in der legendären Lauberhornabfahrt respektive dem Slalom von Adelboden. An den Solothurner Filmtagen treffen sich aktuelle und kommende Grössen des Kulturlebens. Und am WEF in Davos versinkt US-Präsident Trump dermassen in Eigenlob, dass ein Teil der Teilnehmenden den Saal verlässt. Corona? Das ist doch diese Biermarke. Und allenfalls ein Problem weit weg in China.

● 24. Februar: Aufgrund der sich in Italien abzeichnenden Krise setzt der Schweizer Gesundheitsminister Alain Berset die Schweiz in «erhöhte Bereitschaft».

● 25. Februar 2020: Das Virus ist da. Im Kanton Tessin erkrankt ein 70-jähriger Mann am neuen Coronavirus. Es ist der Beginn einer Kaskade von behördlichen Weisungen und Massnahmen. Ab jetzt kennen die Zahlen der Infizierten und der Toten nur eine Richtung: nach oben. Im für eine Pandemie typischen, exponentiellen Verlauf.

● 26. Februar: Der Kanton Tessin geht voran: er verbietet alle öffentlichen Anlässe. Betroffen sind auch Fasnachts-Umzüge. Die beiden Tessiner Eishockey-Clubs dürfen ihre beiden nächsten Heimpartien nur noch als Geisterspiele austragen, also ohne Publikum.

● 27. Februar: «Social Distancing» wird zum Begriff. Das Bundesamt für Gesundheit lanciert die Kampagne «So schützen wir uns», die seither laufend angepasst wird. Eine Auswahl der Ratschläge: Fleissiges Händewaschen, Niesen in Armbeuge, bei Grippesymptomen zuhause bleiben, Abstand halten, Arzt- oder Spitalbesuch nur mit telefonischer Voranmeldung. Und später die alles dominierende Weisung: «Bleiben Sie zuhause.»

Am selben Tag sagen die Organisatoren des Engadin Skimarathons die Grossveranstaltung vom 8. März mit fast 15’000 Sportlerinnen und Sportlern ab – der Startschuss zum Shutdown des Sports in der Schweiz ist gefallen.

● 28. Februar: Der Bundesrat erhöht die Alarmstufe an seiner ersten «grossen» Freitags-Medienkonferenz offiziell auf «besondere Lage». Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen sind ab sofort verboten. Grundlage ist das Epidemiengesetz, das dem Bundesrat das Regieren per Notrecht ermöglicht. Auch legt der Bund ein Programm für Betriebe in Not auf: Sie können Anträge auf Kurzarbeitsentschädigungen stellen.

Fussball- und Eishockeymeisterschaft, Fasnachten in Basel, Luzern etc., Genfer Automobilsalon, BaselWatch, Museums- Ausstellungen usw.: Der Entscheid der Regierung bedeutet das vorzeitige und meist definitive Aus auch für die heiligsten Termine und Einträge im Schweizer Event-Kalender.

Die PräventionskampagneExterner Link des Bundesamtes für Gesundheit (BAG).

Die Rückholaktion des Aussendepartements (EDA)Externer Link für Schweizerinnen und Schweizer, die im Ausland blockiert sind.

Unser swissinfo.ch-Dossier zur Corona-Pandemie.

● 5. März: Das erste Todesopfer. In Lausanne stirbt eine 74-jährige Frau an der Lungenkrankheit Covid-19, die durch das neue Coronavirus hervorgerufen wird.

● Anfang März: Die Kampagne verpufft teils. In mehreren Städten machen junge Menschen Party und unterlaufen so demonstrativ die Anordnungen des Bundes. Gleichzeitig aber gewinnen private Initiative zur Solidarität insbesondere mit den Älteren überhand, die besonders risikoexponiert sind. Die Spanne reicht von Einkäufen über Gespräche bis Sicherstellung medizinischer Versorgung.

● 11. März: Angesichts der rasanten Ausbreitung des Virus in Norditalien führt die Schweiz im Kanton Tessin Grenzkontrollen ein. Die rund 70’000 Grenzgänger dürfen nach wie vor einreisen.

● 12. März: Das Tessin ruft als erster Kanton eine Ausnahmesituation aus, Schulen und die beiden Hochschulen machen dicht. Der Bund legt ein Nothilfepaket von zehn Milliarden Franken auf, um Ausfälle für die Schweizer Unternehmen abzufedern.

● 13. März: Der Bundesrat schränkt die Bewegungsfreiheit ein. Veranstaltungen ab 100 Personen sind verboten; in Restaurants, Bars und Diskotheken dürfen sich nur noch maximal 50 Personen aufhalten. Die anwesenden Personen müssen zudem Abstand einhalten. Für Unternehmen, denen Liquiditätsengpässe drohen, legt die Regierung ein Hilfsprogramm von zehn Milliarden Franken auf.

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● 16. März oder der Big Bang: Der Bundesrat erklärt die «ausserordentliche Lage». Alle Läden, Restaurants, Bars sowie Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe bleiben in der ganzen Schweiz zumindest bis am 19. April geschlossen. Der Lockdown gilt auch für Schulen. Geöffnet bleiben nur Lebensmittelläden und Gesundheitseinrichtungen wie Apotheken. Die Armee mobilisiert bis zu 8000 Armeeangehörige für Unterstützungsdienste in Gesundheitswesen, Logistik und Sicherheit.

● 19. März: Der Kanton Uri schert aus. Die Behörden des Bergkantons verhängen eine Ausgangssperre für Senioren ab 65 Jahren. Sie müssen die Massnahme nach einer Intervention des Bundes zwei Tagen später zurücknehmen.

● 20. März: Der Bundesrat greift zu drastischem Notrecht und erlässt ein Versammlungsverbot für mehr als fünf Personen. Dazu ruft er die Bevölkerung auf, das Haus nur noch für Lebensmitteleinkäufe und Arztbesuche zu verlassen. Die Empfehlung gilt insbesondere für Menschen über 65, die vom Virus besonders gefährdet sind. Damit setzt die Regierung auf eine selbstverantwortete Ausgehbeschränkung und nicht auf eine Ausgangssperre, wie sie etwa Italien, Frankreich, Spanien oder Argentinien verhängten.

Mit der Notverordnung verfolgt der Bundesrat zwei Ziele: Die Verhinderung eines Kollapses in den Schweizer Spitälern und die Beendigung des «Wildwuchs» der Kantone betreffend Massnahmen. Dazu bessert er seine Nothilfe für die Schweizer Wirtschaft nach und erhöht auf 42 Milliarden Franken. Die Soforthilfe für Firmen in Not beträgt 500’000 Franken, die sie ohne grossen bürokratischen Aufwand und zinsfrei ihrer Privatbank beziehen können.

● Einzelne Städte schliessen öffentliche Parkanlagen. Polizeipatrouillen setzen das Versammlungsverbot und das Distanzgebot vereinzelt durch.

● 21. März: Das Aussenministerium kündigt Sonderflüge für 630 Schweizerinnen und Schweizer an, die in Ländern Lateinamerikas blockiert sind. Der erste Rückflug findet drei Tage später statt.

●  21. März: Der Kanton Tessin schert aus. Die Kantonsregierung ordnet die Schliessung der Industriebetriebe und Baustellen an. Die Massnahme ist auch eine indirekte Grenzschliessung für viele dort als Frontalieri bezeichnete Grenzgänger.

● Am 22. März pfeift der oberste Jurist des Bundes die Tessiner harsch zurück. Alle Kantone hätten sich strikte an das Notrecht des Bundes zu halten, Abweichungen seien nicht möglich, sagte Martin Dumermuth, Leiter des Bundesamtes für Justiz. Mit seinem Vorpreschen habe der Südkanton ein gefährliches Zeichen gesetzt, das es zu unterbinden gelte.

Zwischenbilanz nach einem Monat Schweiz im Ausnahmezustand: 

Das Land ist weitgehend im Stillstand. Das für die allermeisten angenehme Leben existiert so nicht mehr. Die Menschen sind in Isolation. 80% der Beschäftigten arbeiten im Homeoffice. Der Tourismus, die Vorzeigebranche der Schweiz, liegt im Koma.

Beim Bund sind schon fast 600’000 Gesuche von über 40’000 Firmen für Kurzarbeitsentschädigungen eingetroffen. Jene Züge und Busse, die noch verkehren, sind praktisch leer. Es häufen sich Berichte von Menschen, die einsam sterben, weil ihre Lieben sie nicht mehr besuchen können.

Das Schlimme: Der Spuk ist noch lange nicht vorbei. Im Gegenteil: Es wird noch schlimmer kommen. Wann die Talsohle durchschritten ist, das bestimmen wir alle hier und jetzt, mit unserem Verhalten.

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